(hpd) Der zehnte Band der Reihe Naturwissenschaft und Glaube handelt von Verborgenen Kunstformen in der Natur. Ulrich Kutschera et al. stellt in seiner Monographie-Sammlung einige Biologen des 18.-20. Jahrhunderts vor, die Darwins Theorien verfeinerten, korrigierten und ergänzten.
Es sind tatsächlich drei Themen, die Kutschera und seine Mitautoren Wuketits, Hoßfeld und Hoppe bewegen:
Erstens die herausragende Bedeutung auch anderer Biologen als Darwin für das Fach (und die Wissenschaft überhaupt), die ihr Leben der Erforschung bis dato ignorierter Lebensformen widmeten und neue Zusammenhänge herstellten. Die Forscher werden in ihren jeweiligen historischen Kontext gestellt, was veranschaulicht, welche Leistungen sie vollbracht haben, neben ihrer Forschung gegen den gesellschaftlichen Strom zu schwimmen und Anfeindungen parieren zu müssen.
Zweitens die weltanschauliche Revolution, welche durch die Biologie hervorgebracht und intensiviert wurde: Der Schöpfungsglaube wurde nach und nach durch die erdrückende Beweislast für die Evolution verdrängt – wenn auch, wie moniert wird, noch nicht vollständig, wie etwa die gegenwärtig agilen Kreationisten zeigen.
Drittens herauszuarbeiten, dass die Natur die Kunst befruchten kann und dies auch geschieht. Etwa indem sich Künstler an natürlichen Formen orientieren, diese ihren Kunstwerken zugrunde legen, oder aber zum Beispiel Haeckel, dessen Zeichnungen vorgefundener Pflanzen und Lebewesen selbst als Kunstwerke gelten können.
Man könnte noch einen vierten Punkt anfügen: Seitenhiebe gegen die Geisteswissenschaften, die für Kutschera gegenüber den Realwissenschaften nicht evidenzbasiert sind, und die er letztendlich mit Religionssystemen gleichsetzt.
Sechs Kapitel mit unterschiedlichen Themenstellungen
In der Einführung „Vom christlichen Schöpfungsglauben zum Strom der Wahrheit“ erläutert Kutschera, weshalb Jean Lamarck (1744-1829) als der eigentliche „Entdecker der Evolution“ gewürdigt werden sollte. Lamarck veröffentlichte bereits 1809 sein Hauptwerk Philosophie Zoologique, in welchem er das dem Bibelglauben widersprechende Prinzip des Artenwandels durch Anpassung darstellte. Seine Abstammungslehre wurde später von Ernst Haeckel (1834-1919) präzisiert, wohingegen der Beitrag von Charles Darwin (1809-1882) in der Selektionstheorie oder Züchtungslehre lag, wie ebenfalls Haeckel herausstellte, der mit Darwin in freundschaftlichem schriftlichem Kontakt stand. Trotz der weltanschaulichen Konsequenzen der durch die Evolution notwendigen Verabschiedung von der Schöpfungslehre finden sich jedoch bis heute didaktisch aufbereitete „unwissenschaftliche Schein-Argumente der bibeltreuen Schöpfungsanhänger“ (S. 23).
In „Der gottlose Artenwandel durch Vererbung erworbener Eigenschaften und die Bimanen“ geht es den Autoren F.M. Wuketits und U. Kutschera zunächst um die Wissenschaftsgeschichte, die kein geradliniger Vorgang, sondern ein „Zickzackweg“ sei (S. 33). Sie konzentrieren sich auf Lamarck, dessen Konzept der Vererbung erworbener Körpereigenschaften sich zwar später als falsch erwies, der aber zahlreiche physikalische, chemische, meteorologische, geologische sowie einflussreiche botanische und zoologische Publikationen verfasste. Zudem systematisierte er als erster die wirbellosen Tiere (Invertebraten). Über seine Arbeit verlor Lamarck binnen relativ kurzer Zeit seinen christlichen Glauben an die Schöpfung und sein Werk zeigt Züge eines atheistisch-naturalistischen Weltbildes, welches auch den Menschen einbezieht.
Auf Lamarck folgt Haeckel in „Der erste darwinisch denkende Mikrobenforscher und Urvater der evolutionären Protistenkunde“. Der Jenaer Ernst Haeckel gilt als eine Zentralfigur in der Frühgeschichte des Darwinismus, dessen Verknüpfung von Wissenschaft, Weltanschauung, Religion und Künstlertum seinem Wirken nicht nur ein charakteristisches Gepräge gab, sondern auch für kontroverse Interpretationen sorgte. Haeckel erhielt bereits mit 24 Jahren die Approbation als Arzt, sein Interesse an der Meeresbiologie erstreckte sich über einen Zeitraum von fast 40 Jahren und er habilitierte mit 27 Jahren über Rhizopoden (Urtiere) für das Fach Vergleichende Anatomie. Haeckel beschrieb Tausende neuer Arten, gründete als Professor für Zoologie ein Zoologisches Institut und fertigte während seiner zahlreichen Reisen ans Mittelmeer, zu den Kanarischen Inseln, ans Rote Meer, nach Nordafrika, Russland, Ceylon, Java und Sumatra weit über tausend Aquarelle und Skizzen, die seine systematischen Monographien bebilderten und etliche namhafte Künstler inspirierten. Am Ende des Kapitels stehen ausgewählte Textauszüge aus dem Haeckel’schen Mikrokosmos, welche verdeutlichen, was Haeckel bewegte, sich der marinen Kleinstlebewelt zu widmen.
Ein eher unbekannter Biologe wird in „Von der evolutionären Parasiten- und Myxomyceten-Forschung zur nach-Darwin’schen Welt der Mikroben“ vorgestellt: Anton de Bary (1831-1888), der mit 28 in Freiburg zum Professor der Botanik befördert wurde, war Begründer der Phytopathologie, Symbioseforschung und Wegbereiter der Bakteriologie. Er gehörte, so Kutschera und Hoppe, zu „den originellsten Biologen seiner Zeit“ (S. 88). De Bary entdeckte beispielsweise die Ursache der Kartoffelfäule, die in den 1840ern verheerende Hungerkatastrophen auslöste – es handelt sich um einen parasitischen Pilz –, durch die eine Verhinderung der Kontamination mit dem Pilz ermöglicht wurde. Des weiteren führte de Bary experimentelle Ansätze zur Erforschung biologischer Zusammenhänge ein und konnte (wie Louis Pasteur) ein allgemeines Grundgesetz der Biowissenschaften formulieren, nämlich dass Lebewesen nicht aus dem „Nichts“ entstehen können, sondern stets aus Eltern bzw. Mutterzellen. Auch Anton de Bary war künstlerisch begabt, was er zeigte, als er Myxocemeten, die „seltsamen Waldlebewesen“ (Schleimpilze), zeichnete, um sie als Erster in Verwandtschaftsgruppen einzuteilen. Seine Systematik hat (inzwischen erweitert) bis heute Bestand.
Um „Plasmodiale Schleimpilze: Sporenmorphologie und molekulare Systematik der kommunikativen zellulären Mikro-Räuber unserer Wälder“ geht es im fünften Kapitel. T. Hoppe und U. Kutschera haben hier erstmals eine Original-Monographie der 320 häufigsten Myxomyceten-Arten Deutschlands zusammengetragen und auf 120 der insgesamt 270 Seiten fotografisch abgelichtet.
Im Epilog, „Unsere heutige Sicht von der Evolution und der fehlende Respekt vor dem Wissen“ hebt Kutschera nochmals die Verdienste der drei hauptsächlich vorgestellten Wissenschaftler Lamarck, Haeckel und de Bary hervor. Um die drängenden globalen Umweltprobleme der Menschheit einer Lösung näher zu bringen sei es, so Kutschera, notwendig, die Realwissenschaften aufzuwerten und unbelegte Glaubensinhalte (bzw. die Geisteswissenschaften) zu relativieren.
Fazit
Unterschiedliche Zielgruppen – Interessierte an der fachgerechten wie auch historischen Einordnung mehrerer Vertreter der Evolutionsbiologie sowie Interessierte an Schleimpilzen und deren Systematik– können bei der Lektüre von Darwiniana Nova auf ihre Kosten kommen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man nicht besser zwei Bücher daraus gefertigt hätte. Während sich außerdem experimentelle, evidenzbasierte Realwissenschaften weiterhin als wertvoll erweisen, um die Probleme der Menschheit zu lösen, ist die hier vertretene pauschale Gleichsetzung von Geisteswissenschaften mit religiösen Glaubenssystemen wenig überzeugend. Insgesamt ist es jedoch überraschend interessant, mehr über Kleinstlebewesen zu erfahren, wie auch über die Forscher, die sie entdeckten und systematisierten.
Fiona Lorenz
Ulrich Kutschera: Darwiniana Nova: Verborgene Kunstformen der Natur. Lit Verlag; August 2011, 272 Seiten ISBN-10: 3643103786; ISBN-13: 978-3643103789