Die Gewaltherrschaft des Diktators Stalin

(hpd) Der Berliner Historiker Jörg Baberwoski präsentiert eine neue Darstellung und Interpretation der Gewaltherrschaft des sowjetischen Diktators. Die in Erkenntniswert und Informationsgehalt überaus beeindruckende Arbeit neigt aber in der Deutung allzu sehr zu einer Fixierung auf die Persönlichkeit Stalins als Mörder mit Freude an Verletzungen und Zerstörungen.

Worin sind die Ursachen für Stalins Gewaltherrschaft mit der Folge von Millionen von Todesopfern zu sehen? Wie kann man die Ausbeutung von Menschen in den Gulag-Lagern und die Morde in Form der „Säuberungen“ erklären? Über diese Fragen wird in Öffentlichkeit und Wissenschaft kontrovers diskutiert.

Ein Antwortversuch des Soziologen Zygmunt Bauman fand dabei zunächst breite Akzeptanz: Danach ging es um das Streben nach Eindeutigkeit und die Überwindung von Gegensätzen. Auch der Berliner Historiker Jörg Baberowski neigte zunächst zu einer solchen Erklärung, wovon sein Buch „Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus“ von 2003 zeugte. Späteren Forschungen und Lektüren brachten ihn aber davon ab und führten zu eine Revision seiner früheren Interpretationen des Geschehens. Das Ergebnis dieses Entwicklungs- und Wandlungsprozesses findet sich in Baberowskis neuem Werk „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“, das inhaltlich stark auf die Person des Diktators Josef W. Stalin abstellt.

Denn die nun zugänglichen historischen Quellen belegen für ihn, dass „Stalin und seine treuesten Gefolgsleute die Gewaltexzesse der dreißiger Jahre nicht nur angeordnet, sondern systematisch ins Werk gesetzt und die Vasallen in den Provinzen gezwungen hatten, ihren Willen auf möglichst radikale Weise durchzusetzen“ (S. 22). Für sie sei der Einsatz von Gewalt eine selbstverständliche Handlungsoption gewesen, über Gründe und Zwecke habe man nicht gesprochen.

Derartiges Vorgehen deutet Baberowski jedoch nicht als Zeichen von Stärke: „Wir müssen uns im Gegenteil einen schwachen Staat vorstellen, dessen Repräsentanten Gefallen an der Inszenierung des permanenten Chaos und der Gewalt fanden, weil sie nur so ihren Herrschaftsanspruch ständig in Erinnerung halten konnten“ (S. 23). Der stalinistische Terror sei vor allem eine Antwort auf das Unvermögen der Machthaber gewesen, ihren totalen Anspruch auf Herrschaft auch durchzusetzen. Gleichwohl: „Der Schlüssel zur Erklärung der exzessiven Gewalt ist ... der Diktator selbst“ (S. 30).

Diese Deutungslinie zieht sich durch die ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung Russlands bzw. der Sowjetunion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Baberowski beginnt seine Ausführungen mit der Feststellung, dass die Bolschewiki mit ihrer Politik die Bemühungen der Zarenherrschaft zur Homogenisierung und Unterwerfung der Bevölkerung fortsetzten. Danach folgt er der historischen Chronologie der Ereignisse, wobei immer wieder auf die erwähnte Interpretation verwiesen wird. Zum Vorgehen heißt es etwa: „Die Gewalt wurde so sehr zur Selbstverständlichkeit, dass Begründungen zur Selbstrechtfertigung von niemandem mehr benötigt wurden. Wenn erst einmal die Grenze überschritten ist, verlieren die Motive, die sie in Gang gesetzt haben, an Bedeutung“ (S. 131). Und zur Bedeutung der Ideologie bemerkt der Autor: „Nichts ... deutet darauf hin, dass Stalin ein Täter war, der ideologischen Zwängen gehorchte ... Stalin war vielmehr ein Mörder, dem es Freude bereitete, zu zerstören und zu verletzen ...“ (S. 315).

Baberowski erweist sich auch hier als ausgezeichneter Kenner der Geschichte der Sowjetunion, der es durch gute Lesbarkeit und klare Strukturierung versteht, jene Zeit anschaulich darzustellen. In dieser Hinsicht verdient sein Buch höchstes Lob. Es spricht für Baberowski als Historiker und Wissenschaftler, dass er durch neue Einsichten frühere Positionen revidiert. Gleichwohl können gegenüber der Deutung kritische Anmerkungen formuliert werden: Sie läuft allzu sehr auf die Persönlichkeit von Stalin hinaus. Sicherlich spielt diese eine bedeutende Rolle für die Eskalation der Gewaltherrschaft. Hinzu kommen aber mit ähnlich hohem Gewicht noch andere Faktoren, die Baberowski selbst benennt: die historisch-politischen Erfahrungen von Gewalt, die politische Akzeptanzschwäche des Regimes oder die Verselbständigungsprozesse von Unterdrückungspolitik. Den Schlüssel für die Erklärung der exzessiven Gewalt einseitig in Stalins Charakter zu sehen, läuft dann aber doch allzu sehr auf eine Psychologisierung historischer Prozesse hinaus.

Armin Pfahl-Traughber

 

Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012 (C. H. Beck-Verlag), 606 S., 29,95 €