INTERNET. (hpd) Ronny Edry, Wikileaks und Anonymous machen es deutlich: Im Internet und seinen Medien ist die Kultur von Aufklärung und Humanismus auf dem Vormarsch. Riesige Netzwerke progressiver Menschen entstehen online. Da ist es sinnvoll, davor zu warnen, dass sich das Medium schleichend zum Selbstzweck wandelt. Ein Plädoyer an die Community, mal wieder mehr als nur Benutzer zu sein.
Wenn Ronny Edrys Plan aufgeht, könnte seine Idee einen Krieg verhindern. Denn ihm und seinen Mitstreitern ist gelungen, was oft versucht wird, aber nur selten funktioniert: Eine Botschaft von zwischenmenschlicher Liebe und Humanismus viral werden zu lassen. Die Hoffnung auf Frieden und eine bessere Welt zu schüren. In diesem Fall nur zwischen Israelis und Iranern – erst einmal, aber wichtig genug! Gewiss ist nicht garantiert, dass sein Projekt „We love you – Iran & Israel“ gegenüber den sich zuspitzenden Konfrontationen der Regierenden beider Staaten einen ausreichenden Einfluss haben wird.
Doch auf viele andere Menschen hatte es das jetzt schon: Fast doppelt so viel Geld wie geplant konnte die Kampagne schon jetzt einsammeln, damit die Botschaft in Zukunft weiter verbreitet werden kann. Es wäre ein unverzichtbarer Kontrapunkt zu den Pessimismus verbreitenden Berichten vieler Medien, die – noch – vor allem an den Worten der regierenden Politiker kleben und welche deren persönlichen Wahnsinn so leicht zum vermeintlichen Standard erheben. Edrys Kampagne wird vielleicht auch nur ein Symbol, aber besser als nichts.
Und in den letzten Monaten zeigte auch das vielgestaltige Anonymous-Kollektiv, dass es aller ambivalenten Bewertungen zum Spott einen Widerstand gegen die Feinde der offenen Gesellschaft zu richten bereit war. Nicht nur die Plattformen gewöhnlicher rechtsextremer und derart reaktionärer Gruppen waren Ziel düpierender und bloßstellender Aktionen, auch die Webseiten des Vatikans selbst erlagen vorübergehend den digitalisierten Kräften des Protests, die solche Angriffe nüchtern betrachtet letztlich sind. In einer Welt, in der das Herunterreißen von NPD-Plakaten zu oft noch als revolutionäre oder auch illegale Tat behandelt wird, kann ich den Abriss von Webseiten zur Verbreitung von Lügen und menschenverachtenden, gefährlichen Ideen nicht nur als revolutionäre Tat, sondern auch als legitim bezeichnen. Weil heute die Internetseiten des Vatikans noch immer online sind, war es letztlich nicht mehr als ein Symbol – aber besser als nichts.
Und ebenfalls das Projekt Wikileaks, allen Kontroversen zum Trotz, hat für ein Umdenken bei vielen Menschen gesorgt und Aufklärung gebracht, wie sie vorher undenkbar schien. Die diversen Auszeichnungen in den Themengebieten Kampf gegen Zensur und für den Journalismus sprechen eine eigene Sprache, auch wenn Wikileaks mittlerweile aufgrund eines Finanzembargos die Arbeit eingestellt hat. Doch vielleicht zeigt gerade das, dass Versuche zur Veränderung der alten Systeme weiter greifen müssen.
Offenkundig dürfte jedenfalls sein, dass die vor einiger Zeit geforderte Entwicklung einer Kultur von Aufklärung und Humanismus sich jedenfalls im Netz durchsetzt. Die alten Bande zwischen Unwissen, Furcht und Macht, wie sie die traditionellen Medien und damit die Multiplikatoren des alten Jahrtausends bestimmt haben, zerfasern. Heute kommt es vor allem darauf an, dass keine neuen geschmiedet werden können, wie es im Rahmen von Vorratsdatenspeicherung und von fragwürdig rigiden Urheberrechtsabkommen versucht wird.
Doch anders als noch einige Jahre zuvor müssen die Benutzer des Netzes nicht mehr hilflos zusehen, wie vor allem die Feinde der offenen Gesellschaft die öffentliche und globale Debatte bestimmen. Fast alle wichtigen großen Medien konnten sich dem Anpassungsdruck der unzähligen Bewegungen nicht entziehen und haben sich so verändert, dass eine Zukunft wieder Hoffnung macht.
Deutschland betrachtend, wäre der Fall des Karl-Theodor zu Guttenberg und der Abgang eines unwürdigen Bundespräsidenten nicht ohne diese Veränderung denkbar; nicht die Aufdeckung des entsetzlichen, klerikalen Missbrauchs oder die umwälzende Enttarnung mächtiger Mythen. Ohne das Netz und seine Medien wäre auch unser Land noch fest in der Hand alter Apparate, die unser Denken und Handeln bestimmen wollen. Und vielleicht sind sogar diese Erfolge noch nicht mehr als Symbole auf dem Weg zu einem echten Wandel. Aber besser als nichts.
Lina Ben Mhenni schrieb nun vor einem Jahr, dass die Welt sich nur verändert, wenn die Wahrheit verbreitet wird und wir uns alle vernetzen. Und das Netz, so Ben Mhenni weiter, sei dabei ein unvergleichliches Mittel zur Mobilisierung. Mit Hilfe des Netzes „kann die Macht von Diktatoren und repressiven Staatsapparaten erschüttert werden und eine siegreiche Demokratiebewegung entstehen.“ Und so geschieht es auch, in vielen Ländern.
Lina Ben Mhenni stammt aus Tunesien und sie sprach zunächst für eine andere Welt als die europäische und die westlichen, weiter entwickelten Gesellschaften. Diktatoren und repressive Staatsapparate, wie sie die Menschen im arabischen und anderen Gegenden der Welt binden, finden wir hier (so) nicht. Viele von uns sind seit vielen Jahren vernetzt, auf die eine oder andere Weise.
Und die meisten der Wahrheiten, die wir wirklich benötigen, um die Welt in eine gerechtere und menschenwürdigere zu verändern, besitzen diejenigen, die bis auf diese Zeilen in dieser kleinen Ecke des Netzes gestoßen sind, vermutlich schon längst.
Die Wahrheit hat sich also unter denen, die auch für die unbequemen Wahrheiten offen sind, verbreitet und sie verbreitet sich noch. Und anders als noch vor einigen Jahren stehen die an Wahrheit und Menschenrechten, Aufklärung und Humanismus interessierten Bewegungen dabei nicht mehr allein. In unserem Land helfen auch etablierte Medien in einer Weise, wie es von den progressiven Bewegungen in den arabischen Ländern erst noch als etwas Neues erkämpft werden muss.
Aus meiner Sicht gibt es also für uns keinen weiteren Grund, sich noch mehr zu vernetzen – mit dem Netz und im Netz. Denn es mag zwar zu einem Kontinuum der gegenseitigen Aufklärung und des Wissen geworden sein, aber es hat trotzdem Grenzen.
Und eine dieser Grenzen besteht aus dem Unterschied zwischen den Rollen, die wir als seine Benutzer und als Handelnde, die Wirklichkeit außerhalb des Netzes verändernden Akteure, einnehmen. Insofern ist es zwar ein guter Prozess, dass im Netz so viele mehrere Zehntausend große Communities, die sich der von Lina Ben Mhenni und Stephane Hessel vorgeschlagenen Veränderungen verschrieben haben, entstanden sind und noch immer entstehen.
Doch ich wundere mich, wie wenige Veränderungen sie tatsächlich zeigen. Zu oft führen sie mir Dinge vor Augen, die zwar einst Teil einer Veränderung waren, aber jetzt nichts mehr verändern. Alte Wahrheiten, die keiner Veränderung helfen. Halbe Wahrheiten, die niemand braucht. Und Absurdes, das zwecklos die Lebenszeit frisst.
Zu oft kommt mir die Netzgesellschaft wie ein Kollektiv von Individuen vor, die sich im Internet wie in einer „Unimatrix Zero“ versammeln: Ein von der wirklichen Welt getrennter Ort, an dem die Individuen aus ihrer Rolle, die sie in den – alten, fesselnden – Kollektiven außerhalb des digitalen Kosmos besitzen, herausschlüpfen, um sich zu versammeln und die gemeinsamen Visionen vom Kommen deiner besseren Welt erhoffen, verteilen, liken – ohne viele gute Gründe für das Hoffen zu haben.
Und auf unserem Planeten wird heute täglich milliardenfach geteilt, geliked, diskutiert und dabei auch der Glaube gestärkt, es werde sich etwas verändern. Doch schafft diese Freiheit im Netz, mit seinen unzähligen alten und neuen, schönen und schrecklichen Wahrheiten, auch wirklich die nötige Veränderung und die Veränderung, die wir selbst wollen? Wir sind längst vernetzt, doch mobilisiert es uns das noch oder betäubt es den Wunsch und den Willen, sich zu mobilisieren?
Vielleicht dürfen wir nicht vergessen, uns einmal wieder zu fragen, ob das Netz für uns noch Medium ist oder schon einen eigenen Zweck darstellt. Uns, die wir an der Wahrheit und der Veränderung ernsthaft interessiert sind, ist solch eine Transformation schon einmal durch die Lappen gegangen.
Die Folgen davon, dass ein anderes Medium, das Geld, in den vergangenen Jahrzehnten von einem Tauschmedium unbemerkt zum eigenen Zweck geworden ist, werden uns heute eindringlich vor Augen geführt. Die Despoten in westlichen Nationen sind deshalb weniger regierende Politiker als diejenigen, die von dieser unbemerkten Wandlung des Geldes vom Medium des Tauschmittels zum Selbstzweck profitieren konnten. Denn über die Legitimität des Besitzes von Kapital wird auch – oder vor allem – in westlichen Nationen nicht so demokratisch abgestimmt wie über die Legitimität des Besitzes von Mandat und politischer Macht. Die Folgen kennen wir alle. Es ist zum riesigen Problem für die Menschheit geworden. Und es kann zum Problem für das Netz werden, wie Wikileaks zeigt.
Stellen wir uns deshalb nicht nur beim Geld diese Frage. Ist das Netz nun noch Medium oder schon ein eigener Zweck, von dem geglaubt wird, die bloße Teilnahme als Benutzer verändere etwas? Nehmen wir teil am Netz, weil wir es zur Veränderung zum Besseren benötigen oder nehmen wir daran teil, weil sich die Teilnahme am Netz wie die Teilnahme an einer Veränderung anfühlt? Helfen uns die riesigen Netzwerke noch wirklich, nützliche Wahrheiten zur Veränderung zu finden, oder betäuben sie unseren Elan und unser Hoffen – wie die Tempel den Gläubigen helfen, sich im Gebet und im Hoffen zu betäuben?
Ich glaube, diese Frage sollten wir, die eine weitere Entwicklung jeder Kultur von Aufklärung und Humanismus für wichtig halten, uns wieder einmal ernsthaft stellen. Deshalb meine ich: Entnetzt euch, wenn es zur Veränderung beitragen kann! Entnetzt euch, wenn euch das Netz keine nützlichen Wahrheiten mehr liefert, die ihr zur Veränderung braucht! Entnetzt euch, wenn euch die Wahrheiten im Netz nicht länger empören!
Und engagiert euch! Engagiert euch auch außerhalb des Netzes, damit mehr Menschen in Zukunft nicht mehr nur das Netz haben, um den Frieden zu sichern oder Kriege zu verhindern. Oder um bessere Ideen, Mitmenschlichkeit und die Wahrheit zu verbreiten! Engangiert euch, weil die Macht der Doofen heute nur außerhalb des Netzes dominiert und nur dort überwunden werden kann. Entnetzt und engagiert euch, um statt nur ein weiterer Benutzer wieder öfter ein handelnder Mensch zu sein!
Arik Platzek