Vierzig Generationen verlorener Jahre

Christlich-abendländische Leitkultur?

Der deutsche Althistoriker Alexander Demandt vertritt die Meinung, der Bruch des Christentums mit der Antike sei die „Voraussetzung für den Aufstieg Europas gewesen“ und hebt die „beispiellose kulturelle und soziale Glanzleistungen des Christen­tums in der Geschichte des Abendlandes“ hervor (25). Als Beispiel nennt er u. a. „grandiose Kathedralen“ und den in der Zeit von Aufklärung und Moderne, 1846 gegründeten katholischen „Gesellenverein“, der sich später, benannt nach Adolph Kolping, zum inter­nationalen Kolpingwerk entwickelte.

Es sei dahingestellt, ob sich ein Sozialwerk wie das Kolpingwerk, wenn auch katholisch, nicht erst aus den Idealen der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) entwickeln konnte, aber die sicherlich grandiosen Kathedralen, wie auch die übrige Kunst des Mittel­alters, waren nicht aus freiem künstlerischen Schaffen entstanden, sondern zumindest thematisch von der katholischen Kirche vorgegeben und gleich­geschaltet. Neben der Porträt­malerei von Kaisern, Königen und Fürsten waren nur religiöse und kirchliche Motive erlaubt.

Die „Nackte Maja“ hätte noch 100 Jahre zuvor ihren Schöpfer Francisco de Goya (1746 – 1828) wahrscheinlich auf dem Scheiter­haufen der Inquisition enden lassen. Dies erinnert durchaus an die Gleich­schaltung der Künste in diktatorischen Systemen (z. B. Helden der Arbeit). Es ist auch sicherlich müßig, darüber nachzudenken, was für großartige Werke ein Michelangelo hätte schaffen können, wenn er nicht mit den (grandiosen) Malereien in der Sixtinischen Kapelle beschäftigt gewesen wäre ... und darüber, wie viele Michelangelos und Einsteins durch die tausendjährige Bildungs­katastrophe des christlichen Mittel­alters erst verhindert worden waren ...

Der deutsche Althistoriker und evangelische Theologe Klaus Martin Girardet stellt allen Ernstes die Frage in den Raum, „ob nach dem Untergang des heidnischen Imperiums, dank der christlichen Kirche, nicht eine höhere Stufe der Menschheit erreicht worden sei?“ (25). Nicht nur, dass hier nach bekanntem Muster, alle Heiden und Nicht­christen auf eine menschlich tiefere Stufe gestellt werden, auch die entsetzlichen Praktiken der katholischen Inquisition werden hier im Dienst einer „höheren“ Sache gesehen. Der Historiker und katholische Priester Harm Klueting wäscht sich indes von aller historischer Schuld rein, indem er Religions­kriege, Juden­massaker, Ketzer­verfolgung und Hexen­verbrennung als „antichristliche Veranstaltungen des Christlichen“ bezeichnet (26).

Christliche Apologeten behaupten heute, dass die moderne Wissen­schaft ihre Wurzeln nicht in der Antike habe, sondern sich nur aus christlichem Denken heraus habe entwickeln können (27). Christliche Kloster- und Dom­schulen seien es gewesen, die eine Grund­bildung mit Lesen und Schreiben aufrecht erhalten und damit die Grund­lagen für ein modernes Bildungs­system gelegt hätten. Nachdem mehr als 40 Generationen im Kerker der Unbildung gefangen gehalten wurden, bean­spruchen die Kerker­­meister nun Aner­kennung dafür, dass die Geschundenen ihren Kindern und Enkeln nach mehr als 1.000 Jahren wieder eine angemessene Bildung zukommen lassen können, nachdem diese erst von mutigen, freidenkenden Menschen aus diesem Kerker befreit werden mussten. 

Das Christlich-Abendländische an unserer Kultur­­geschichte hat eben gerade nicht zu der heutigen wissen­schaftlichen Kreativität und Leistungs­­fähigkeit beigetragen, sondern diese, mit zum Teil brutalen und unmenschlichen Methoden, massiv verhindert. Das Christlich-Abendländische wird in unserer Gesellschaft von einfluss­­reichen gesellschaft­lichen Gruppen noch immer als Leit­kultur bezeichnet, ist aber als ein Ausläufer des Mittel­alters zu betrachten.

Tradition griechisch-römischer Kulturgeschichte

Unsere moderne Wissens­gesellschaft steht viel mehr in der Tradition einer griechisch-römischen Kulturgeschichte, die bezüglich Wissen­schaft, Philosophie und Kunst bereits in der Antike ein erstaunlich hohes Niveau erreichte. Die Diskussion um eine „Leitkultur“ sollte sich daher nicht am Christlich-Abendländischen, sondern an der Geschichte demokratischer und sozialer Rechts­­staatlichkeit auf der Grundlage der Allgemeinen Menschen­­rechte, die gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft werden mussten, orientieren. Eine solche „Humanistische Leitkultur“ bildet eben diese menschen­rechtliche Basis einer demokratischen, sozialen Rechts­staatlichkeit und schafft die Frei­räume und Entfaltungs­­möglichkeiten aller gesellschaft­lichen Gruppen, die sich diesem Werte­system nicht gewaltsam widersetzen. Selbstverständlich haben hier auch Religionen und Kirchen als vom Staat getrennte, private Organisationen ihren Platz.

Nach Darwins Erkenntnis über „die Entstehung der Arten“, der Entdeckung unseres Sonnen­systems als einem winzigen Körnchen in einem gigantischen Universum, der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und der erst am Anfang stehenden Erforschung unseres Gehirns, verändert die Wissenschaft unser Bild von uns und der Welt in einer permanenten und dramatischen Weise. Dabei wurden schon in der Antike (z. B. heliozentrisches Weltsystem, Epikurs hedonistische Philosophie) und ganz massiv seit der „Kopernikanischen Wende“, religiös geprägte Glaubens­­dogmen durch wissen­schaftliche Erkennt­nisse ersetzt: die Erde steht nicht im Mittelpunkt des Universums, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern zufälliges Produkt der Evolution und hat inzwischen die Fähigkeit erlangt, sich selbst genetisch zu manipulieren.

Die Hirnforschung enttarnt den geglaubten Freien Willen als die Illusion eines „gefühlten Freien Willens“. Die wissenschaftliche Methode des Erkenntnis­­gewinns durch steten Zweifel an scheinbar gesichertem Wissen, ist ein Erfolgs­­modell, das uns mehr von der Wirklichkeit dieser Welt offenbart, als alle religiösen Dogmen dieser Welt zusammen­genommen. Erst nach mehr als 1.000 Jahren wissenschafts- und bildungs­feindlichem, christlich-mittel­alterlichem Dogmatismus wurde der Irrtum des Augustinus von Hippo durch die Erfolge der modernen Wissen­schaft wieder deutlich gemacht: Nicht der Glaube, sondern der Zweifel geht der Erkenntnis voraus.

„Über das Mittelalter senkte sich die Finsternis“ (12.12.2011)

„Schatten über Europa” (27.11.2011)

Requiem für die abendländische Kultur (29.11.2010)

Die wilden Jahre des Christentums (19.11.2010)

Requiem für die antike Kultur (30.7.2009)

Der Untergang des Abendlandes (7.7.2009)
 

 
Referenzen

(1) Rolf Bergmeier, Schatten über Europa, Alibri Verlag, 2012.
(2) Aristarchos von Samos, http://de.wikipedia.org/wiki/Aristarchos_von_Samos
(3) Rolf Bergmeier, ebd. S. 14 - 19
(4) Rolf Bergmeier, ebd. S. 13 und 192
(5) Rolf Bergmeier, ebd. S. 8
(6) Rolf Bergmeier, ebd. S. 41 und E.A. Parsons, The Alexandrian Library. Glory of the hellenic world, 1967, S. 121
(7) Das Räderwerk von Antikythera, http://cs.uni-muenster.de/Studieren/Scripten/Lippe/geschichte/pdf/Kap2.pdf
(8) Dreikaiseredikt, http://de.wikipedia.org/wiki/Cunctos_populos
(9) Rolf Bergmeier, ebd. S. 204
(10) Rolf Bergmeier, ebd. S. 164
(11) Rolf Bergmeier, ebd. S. 147
(12) Rolf Bergmeier, ebd. S. 211
(13) Rolf Bergmeier, ebd. S. 122
(14) Rolf Bergmeier, ebd. S. 147
(15) Rolf Bergmeier, ebd. S. 141
(16) Rolf Bergmeier, ebd. S. 201
(17) Karolingische Renaissance, http://de.wikipedia.org/wiki/Karolingische_Renaissance
(18) Rolf Bergmeier, ebd. S. 235
(19) al-Hakam II, http://de.wikipedia.org/wiki/Al-Hakam_II.
(20) Gonzalo Jiménez de Cisneros, http://de.wikipedia.org/wiki/Jim%C3%A9nez_de_Cisneros
(21) Leonardo da Vinci, http://de.wikipedia.org/wiki/Leonardo_da_Vinci
(22) Pomponio Algerio, http://en.wikipedia.org/wiki/Pomponio_Algerio
(23) Rolf Bergmeier, ebd. S. 159
(24) Antimodernisteneid, http://de.wikipedia.org/wiki/Antimodernisteneid
(25) Rolf Bergmeier, ebd. S. 53
(26) Rolf Bergmeier, ebd. S. 123 - 124
(27) Manfred Lütz, Gott – eine kleine Geschichte des Größten, Pattloch Verlag 2007, S. 107 - 121