ROM. (hpd) Mit Riesenbrimborium wird am 7. Oktober 2012 die erst im Mai dieses Jahres von Papst Benedikt XVI heiliggesprochene Benediktineräbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) in den Stand einer „Kirchenlehrerin“ erhoben. Ihre besondere Leistung war die „Apotheke Gottes“ - eine beispielhafte Quacksalberei.
Während die katholische Kirche mehr als 14.000 Selige, Heilige und als heilig verehrte Märtyrer kennt, gibt es nur 33 offiziell anerkannte Kirchenlehrer, die, um dieser allerhöchsten Auszeichnung teilhaftig zu werden, nicht nur heiligmäßig gelebt und nachweisliche Wunder vollbracht, sondern darüber hinaus einen „eminenten Beitrag zur Lehre und zum Verständnis des Glaubens“ geleistet haben müssen. Neben den vier „Kirchenvätern“ Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Papst Gregor I. zählen zu den bekannteren Kirchenlehrern Thomas von Aquin, Petrus Canisius oder Albertus Magnus.
Welchen Beitrag genau Hildegard von Bingen zur Glaubenslehre der Christenheit geleistet haben soll, ist nicht erkennbar. Da sie sich aber ausgezeichnet vermarkten lässt, wie sich anlässlich des Rummels um ihren 800sten Todestag (1979) und mehr noch um ihren 900sten Geburtstag (1998) zeigte, woraufhin sogar ein Spielfilm über sie in die Kinos kam (2009), wurde sie 2010 von Papst Benedikt mit einer eigenen Katechese gewürdigt: er bezeichnete sie als „eine der wichtigsten Frauengestalten des Mittelalters“, als „Prophetin und Gesandte Gottes“. Hildegard habe, wie der Pontifex besonders hervorhob, „aus ihrer Sicht der Schöpfung von Gott her auch die Gaben der Schöpfung zu deuten gewusst, in der Schöpfung eine Apotheke Gottes gefunden und so eine Medizin entwickelt, die heute neues Interesse findet.“ Zwei Jahre später wurde Hildegard zur „Ehre der Altäre“ erhoben.
Der Legende nach waren Hildegard schon ab frühester Kindheit „Visionen“ zuteil geworden, die sich ab ihrem vierten Lebensjahrzehnt zu mystischer Einsicht unter anderem in das Wesen der Sünde, der Vergebung und die Natur des Kosmos verdichteten. In einer ihrer späteren Visionen war sie von einer Stimme beauftragt worden, ihre Einsichten aufzuzeichnen, was zur Niederschrift von neun Büchern, über siebzig Gedichten und mehr als dreihundert Briefen führte. Neben allerlei theologischen Auslassungen und Prophezeiungen befasste sich Hildegard in zwei Büchern mit medizinischen Fragen und Heilmethoden.
Im Mittelpunkt ihres Konzepts stehen Beten und Fasten, daneben verschreibt sie bestimmte Pflanzen- und vor allem Edelsteintinkturen, deren jeweilige Rezeptur sie in ihren Visionen „von höherer Warte“ empfangen haben will. Ob dies zutrifft, muss dahingestellt bleiben, jedenfalls weist Hildegards Edelsteinheilkunde deutliche Parallelen zu einer seinerzeit in Adels- und Klerikerkreisen weitverbreiteten Schrift mit dem Titel „Lapidarius“ auf, die der französische Benediktinermönch Marbod (1035-1123), später Bischof zu Rennes, über die Wirkung von Steinen auf den menschlichen Organismus verfasst hatte. Überhaupt ist unklar, ob die Hildegard zugeschriebenen medizinischen Werke tatsächlich von ihr stammen; es existieren keine Originalschriften, das Buch „Physica“ wurde erstmals 1533 in Straßburg gedruckt. Noch mehr Unsicherheit herrscht über das zweite Buch „Causae et Curae“.
In erster Linie empfiehlt Hildegard, die Steine in Wasser einzulegen und dieses dann zu trinken. Schwache Augen beispielsweise, Herzbeschwerden und Darmstörungen seien mit Wasser zu behandeln, in dem ein von der Sonne erwärmter Bergkristall eine Stunde lang gelegen habe; solches Kristallwasser solle schluckweise den Tag über getrunken werden . Achatwasser helfe bei Schlafwandeln und Insektenbissen, Zirkonwasser (Hyazinth) bei Wahnvorstellungen, krankhaftem Lachen und übersteigertem Sexualtrieb. Karneol, ein bräunlichroter Stein, wird von Hildegard gegen Nasenbluten empfohlen; anstatt in Wasser müsse er allerdings in erwärmten Wein eingelegt werden, von dem der Betroffene trinken solle. Auch Onyx wird in Wein eingelegt, aus dem dann mit Mehl und Hühnereiern eine Suppe gegen Magenleiden zubereitet wird; Onyx sei im Übrigen auch hilfreich gegen Priapismus (krankhafte Dauererektion). Diamant, so Hildegard, verscheuche den Teufel: „Es gibt Menschen, die ihrem Wesen nach und auch unter teuflischem Einfluß böswillig sind und darum gerne auch schweigen. Wenn sie aber reden, haben sie einen bohrenden Blick und geraten manchmal außer sich, wie wenn sie von Wahnsinn gelenkt würden (...) Solche Leute sollen oft, oder noch besser fast dauernd, einen Diamant in den Mund nehmen. Die Wirkung dieses Steins ist so groß und kräftig, dass er Bösartigkeit und das Böse auslöscht, das im Menschen steckt“. Auch bei Infektionskrankheiten wie Grippe oder Malaria rät sie, den Heilstein - in diesem Falle: einen Smaragd - direkt in den Mund zu nehmen, Epileptikern solle bei einem Anfall ein Smaragd in den Mund geschoben werden. Depressive sollen Aquamarin oder Jaspis auflegen, dazu Veilchen in Wein trinken und den Körper mit Fenchelsaft einreiben. Dazu empfiehlt Hildegard regelmäßiges Beten sowie eine Art Autogenes Training: „Federleichte Seele, bleib stark und kleide dich in eine Rüstung aus Licht“.
Seit Anfang der 1970er Jahre wird in Alternativheilerkreisen sogenannte „Hildegard-Medizin“ vertrieben, ein heillos überteuertes Sammelsurium an Pflanzenpräparaten, Edelsteinen und Nahrungsmitteln. Darüber hinaus gibt es unter dem Signet Hildegards eigene Kosmetika, Kleidungsstücke, Plumeaus sowie sonstige Bedarfsartikel des täglichen Lebens, dazu eine Unzahl an Publikationen mit Ratschlägen und Rezepturen für eine „gesunde Lebensführung“. Wer allerdings Buchtiteln wie „So heilt Gott“ vertraue, so die „Stiftung Warentest“, und sich ausschließlich der „Hildegard-Medizin“ überantworte, gefährde unter Umständen sogar sein Leben. So zum Beispiel, wenn Diabetiker der Empfehlung folgten, ihr Hungergefühl mit einer Edelsteintinktur zu lenken.
Tatsächlich beruht das Medizinverständnis Hildegards auf mittelalterlichen Vorstellungen mit magisch-okkultem Einschlag, insbesondere ihre Edelsteinmedizin entbehrt jeder rationalen Grundlage. Solche Vorstellungen nun zur Grundlage einer zeitgemäßen Behandlung von Epilepsie, Herzklappenentzündung, Krebs oder Querschnittlähmung zu machen, wie Hildegardgläubige Heilpraktiker und Alternativmediziner dies tun, muss als unverantwortliche Scharlatanerie gewertet werden. Auch und gerade dann, wenn Papst Benedikt die „Apotheke Gottes“ seiner neuernannten Kirchenlehrerin besonders würdigt.
Colin Goldner