Bräuche rechtfertigen keine Beschädigung

Sein Redebeitrag wurde im Folgenden von Prof. Dr. Winfried Kluth, ebenfalls vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der MLU, um die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) ergänzt. Nach einem kurzem Rekurs auf die Geschichte der KRK machte er deutlich, dass durch das Ziel der KRK, die rechtliche Subjektstellung des Kindes zu stärken, hier ein Perspektivenwechsel auch für das Grundgesetz vollzogen wird. Er argumentiert mit Prof. Dr. iur. Bea Verschraegen von der Universität Wien, dass dem Kind Rechte zu stehen, weil es Kind ist und nicht verwehrt werden, weil es noch kein Erwachsener ist. Vor diesem Hintergrund beurteilte er die rechtlichen Konsequenzen der Art. 3 KRK (Beachtung des Kindeswohles), Art. 5 (Elternrecht) und Art. 24 (Gesundheits­schutz und Überprüfung von Bräuchen). Die beiden Art. 5 und Art. 24 besitzen in Deutschland gesetzlichen Charakter. Dagegen besitzt Art. 3 als Querschnitts­klausel eine verfassungs­rechtliche Dimension. Für ihn sprechen gute Gründe gegen eine pauschale Freigabe der Beschneidung, wie im Gesetzes­entwurf geplant. Die KRK geht über die Betrachtung medizinischer Aspekte weit hinaus. Sie stellt das Kind als Subjekt in den Mittelpunkt. Somit kommt es mit der nach Habermas detektivistischen Funktion der Menschen­rechte und neuen Evidenzen zu modernen Heraus­forderungen an die Religions­gemeinschaften. Prof. Kluth schloss mit der Aufforderung an die Politik, sich Zeit in ihrer Arbeit zu nehmen, um so ein Sonder­recht für religiöse Bräuche zu vermeiden.

Kulturwissenschaftliche Beiträge legten weitere Aspekte der Debatte offen. Aus dem Vortrag von Prof. Dr. theol. Stefan Schorch vom Institut für Bibel­wissenschaften der MLU konnten die Zuhörer nicht nur Wissen über die hermeneutischen, historischen und religions­gesetzlichen Hintergründe des Beschneidungs­gebotes im Judentum erfahren, sondern auch die Erkenntnis mitnehmen, dass zwar das Gebot ein "a priori"- Gesetz sei, es allerdings aus dem Judentum selbst heraus jederzeit Möglich­keiten gab und gibt, dieses Gebot in ein anderes Selbst­verständnis zu transformieren. Die Frage nach einer medizinischen Indikation sei so historisch schon immer ein inner­jüdischer Debatten­geber gewesen. Zudem sei der jüdische Diskursraum größer als die bisherigen Einlassungen, z. B. von Frau Knobloch. Mit seinen Ausführungen zur Geschichte des kulturellen Brauches des Epispasmus, dem Wiederherabziehen der beschnittenem Vorhaut über die Eichel in hellenistischen Zeiten, lenkte er den Blick auf die innerjüdischen Veränderbarkeit der Ausführungen der Brit Mila.

Die Darstellung der Perspektive auf die Beschneidung aus der Sicht des Islam oblag dem Islam­wissenschaftler Prof. Dr. Ralf Elger vom Seminar für Arabistik und Islam­wissenschaften der MLU. Im Gegensatz zu der in der deutschen Öffentlichkeit von Vertretern der muslimischen Verbände immer wieder vorgetragenen Haltung, dass die Beschneidung auch im Islam einen "a priori"-Charakter ohne Wenn und Aber habe, führte Prof. Elger über die Geschichte der Hadithen und der Koran­exegese aus, dass die islamische Rechtsauslegung seit je her dynamisch und unklar und der juristische Dissens im Islam der Normalfall ist. Anschaulich machte er dies über eine mögliche "wissenschaftlich" titulierte Koranexegese, die die Hadithen als "menschlich und daher fehleranfällig" betrachte. Aus dieser religiös-othodoxenPerspektive , die textlich älter als die meisten anderen islamischen Strömungen ist, folgt, dass die Beschneidung nicht "göttlich" begründet werden kann. Denn die "Unversehrtheit" des Menschen ist ein Gebot (Sure 2:256) und Beschneidung ist aus dieser Perspektive ein Werk des "Satans". Er machte deutlich, dass diese Perspektive nur eine von vielen möglichen ist. Angesichts dieser  Heterogenität des Islam, ist es wichtig, danach zu fragen, was deutsche Muslime denken. Bekannt sind momentan hauptsächlich die Meinungen von Verbandsvertretern. Bei einer zu vermutenden sehr hohen Anzahl von nicht organisierten, daher "schweigenden Geburtsmuslimen" unter den 3,4 Millionen Muslimen in Deutschland, ergeben die Äußerungen von Verbänden im Rahmen politischer Veranstaltungen wie der "Islamkonferenz" immer nur ein Partikularbild.

Ein Partikularbild ganz anderer Art ergab sich aus den durch Dr. med. Richard Stern vorgetragenen "Erfahrungen am Jüdischen Krankenhaus Berlin". Die Neigung des Arztes zu Anekdoten lockerte den Vortrag in Bezug auf die Historie des Kranken­hauses auf, ließ aber argumentative Kraft an entscheidenden Stellen vermissen und legte so offen, woran es der Debatte in der Öffentlichkeit an vielen Stellen fehlt - an intellektueller Redlichkeit. Seiner Behauptung, als Vertreter evidenz-basierter Medizin zu sprechen, ließ er fast ausschließlich fehlerhafte Argumentations­ketten folgen. Er verwies immer wieder auf eine groß angelegte israelische Studie, die gezeigt belegt, dass die Komplikationsrate bei Beschneidungen durch ausgebildete Mohels angeblich unter 0,5 % liege und dies hinnehmbar sei. Dabei reflektierte er nicht, dass bei einem nicht-indizierten medizinischen Eingriff an Nicht­einwilligungs­fähigen aus medizin-ethischer Sicht dieses halbe Prozent immer noch 0,5 % zu viel ist. Die von Prof. Jerouschek vorher ins Feld geführten Überlegungen zu Schmerz­traumata blendete er völlig aus. Als klassisches Autoritäts­argument baute er dann die aktuelle Empfehlung der "American Acadamy of Pediatrics" (AAP) auf. Eine kritische und datenbasierte Darstellung fehlte ebenso wie der Verweis auf die überwiegende Mehrheit von Kinderarzt­verbänden weltweit mit gegen­teiligen Schlüssen. Der Hinweis darauf, dass weltweit 1/3 der Männer beschnitten sei, durfte leider nicht fehlen und bleibt eben nur ein leeres argumentum ad populum. Seine abschließende Bemerkung, dass er als Arzt sich im persönlichen Konflikt zwischen staatlichen und religiösen Gesetzen bewege, machte an seiner Person deutlich, wo das Problem in der Debatte genau liegt.