Bräuche rechtfertigen keine Beschädigung

Die persönliche Höhergewichtung religiöser Annahmen und gruppendienlicher "Gesetze" über die Grund­verfassungen des bürgerlichen Staates birgt in der Entwicklung juristischer Standards eben genau die Gefahr, die Prof. Dr. Winfried Hassemer in seinem Abendvortrag zu dem Schluss kommen ließ, dass die Einführung von Sonder­rechten das Recht an sich verdirbt und das Vertrauen der Bürger als eigentliche Verfassungs­voraussetzung untergräbt. Seine vorgetragene These: "Wenn wir das Beschneidungs­verbot aufheben, bekommen wir Probleme!" ist vorher von ihm in der Zeitung für Rechtspolitik (ZRP) - der hpd berichtete  - schon dargelegt worden. Gerade weil der politische Tenor darauf hinaus laufe, dass das strafrechtlich bestehende Beschneidungs­verbot mit einem zwar technisch sauberen Gesetz aufgehoben werden solle, sei es wichtig, an die Konsequenzen zu erinnern. Ob eine Beschneidung "richtig" oder "falsch" sei, ist unerheblich. Eine pragmatische Rechts­auslegung ist eine Gefahr für eine konsistente Rechts­sprechung. "Wir sind kein Gottesstaat.", so sein immer wieder eingebrachter Hinweis. Den bestehenden Konflikt "Schadenskultur" vs. "Brauchtumskultur" kann man nur mit der Vermeidung von Sonderrechten für Teile der Bevölkerung, welcher Art auch immer, entschärfen.

   

Der Dienstag brachte dann noch drei weitere Vorträge und eine Abschlussdiskussion, die allerdings recht müde und kurz ausfiel. Ziemlich viel aufmunterndes Feuer lag zuvor aber im vorgetragenen Entwurf einer normativ sich einmischenden Ethnologie durch die Juristin Prof. Dr. Marie-Claire Foblets. Die ethnologische Perspektive sei gemeinhin bisher eine Beschreibende. Ohne nur auf die Beschneidungs­debatte abzuzielen, forderte sie die Ethnologie und die Justiz auf, stärker normativ zusammen zu arbeiten. So können ethnologische Expertisen vor Gericht zur "Aufdeckung erfundener Traditionen" führen.

Nachdem Rabbiner Ben-Chorin seine vom bisher bekannten religiösen Diskurs nicht abweichende Darstellung der jüdischen Beschneidung vortrug, kam mit Prof. Dr. phil. Florian Steger vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der MLU ein nächster Stichwort­geber einer ethischen Perspektive. Er referierte über "Medizinethische Annahmen zur Beschneidung". Die exklusiv religiöse Begründung einer nicht-indizierten Beschneidung an nicht­einwilligungs­fähigen Dritten weise mit dem vorliegenden Gesetzes­entwurf die volle Verantwortung dem an sich schützens­werten Berufsstand des Arztes zu. Dieser sei an ethische Normen gebunden. Ängste, Traumata und Schmerz seien aus ethischer Perspektive eindeutig als medizinischer Schaden zu klassifizieren. Es gibt keine belastbaren Studien, die die rituelle Beschneidung als medizinische Indikation ausweisen. Beides in Verbindung mit einer bestehenden Komplikations­rate lassen die pädiatrischen Verbände die rituelle Beschneidung aus medizinisch-ethischen Prinzipien heraus ablehnen.

Falls es zu einer Rechtslage kommt, die diese Form der Beschneidung juristisch erlaube, so bleibe es letztendlich dem Gewissen des einzelnen Arzt - und nur diesem! - überlassen, ob er den Kinderschutz nun neu verschärft unter das Elternrecht ordnet, wie rechtlich geplant. Niemand könne Ärzte zwingen, eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung vorzunehmen. In seinem zweiten Teil des Vortrages entwickelte Prof. Steger die heute unter der Ärzteschaft bestehende Annahme, dass Kinder vollständige Menschen seien. Er verwies auf die Ethik von Claudia Wiesemann  und die Arbeiten des dänischen Therapeuten Jesper Juul zur präfigurabler Moralität von Kindern. Unter Berücksichtigung auch dessen, sei nicht das Recht der zukünftigen Erwachsenen auf einen unbeschnittenen Körper zu beachten (!), sondern das Recht der Kinder auf Selbst­bestimmung. Dieses auszuhebeln, bedarf schon sehr starker Rechtfertigungs­gründe. Diese sind nicht zu sehen. Prof. Steger: "Soziokulturelle Ansprüche sind hier nicht zu würdigen. Sie sind untergeordnet, weil das Kind jetzt Patient ist." Im Rahmen einer folgenden Diskussion widersprach er klar den ange­sprochenen Studien von Dr. Stern. Diese Studien seien vom Deutschen Ethikrat begutachtet und als nicht hinreichend klassifiziert worden.

Aus der anschließenden Diskussion lässt sich vor allem das Statement von Rabbiner Ben-Chorin hervorheben. Er habe "heute zum ersten Male verstanden", so wandte er sich an Prof. Steger, "dass es in der Diskussion einen Gegensatz zwischen den Standpunkten der Gruppen­erfahrung/ Erfahrungs­gemeinschaft und dem einer anthropologischen Zentrums­stellung gibt."

Denn hilflos, fast trotzig wird in der bestehenden Debatte von religiöser Seite immer wieder gesagt: "Es ist so! Ich habe es nicht zu verantworten! Es ist Tradition. Ich kann nicht anders!" Die Subjektivierung des Kindes als Rechtsträger steht aktuell der versuchten Nivellierung der säkularen Autonomie durch religiöse Gruppenmerkmale gegenüber. Einen pragmatischen Ausgleich kann es so nur auf Kosten des Rechts­subjektes Kindes geben. So sehr auch die Tagung die Erkenntnis zulässt, dass es momentan weitaus wichtiger ist, sachlich und gemeinsam eine breit gefächerte Debatten­kultur zu pflegen, als schnell Gesetze zu erlassen, so unverrückbar ist auch die Erkenntnis, dass der Weg zu einer gemeinsamen ethischen Basis, für religiöse Befür­worter der Beschneidung weiter und viel schwieriger ist, als für die Gegner der Beschneidung. Diesen Weg aber gibt es sehr wohl. Er ist leicht zu erkennen. Vielleicht muss man aus humanistischer Sicht den religiösen Verteidigern von "a priori" Argumenten nur mehr stoisch und beharrlich das Licht zu einer anthropologischen Zentrums­stellung halten. Die besseren Argumente dafür sind da.

Thomas Jeschner
 

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Fotografien jeweils von den Seiten der Universitäten Halle und Jena, dem Jüdischen Krankenhaus Berlin und der Jüdischen Gemeinde.