Eine Herausforderung für jeden von uns

In Deutschland ist Suizidhilfe nicht strafbar, aber dennoch gibt es zahlreiche Hürden und Gefahren. Welche Möglichkeiten, einem Menschen bei seinem letzten Schritt beizustehen, gibt es in der Praxis?

Gita Neumann: Die Hürde besteht in einem Wort in der Deutschen Mentalität. Sie ist von Ängstlichkeit, mangelnder Zivilcourage und Unaufgeklärtheit geprägt (man kann z. B. bei einer Organisation wie der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben noch hinzufügen: von der Sorge um Aberkennung der Gemeinnützigkeit oder bei jeder x-beliebigen Einrichtung, wozu ich auch den Humanistischen Verband Deutschlands rechne: von der Sorge um Imageverlust, übler Nachrede, d. h. also irgendwelchen Nachteilen).

Unsere strafrechtliche Ausgangslage ist ja noch liberaler als die in der Schweiz. Dort ist die Wahrnehmung der Selbstbestimmung – übrigens seit eh und je ein Privileg der gebildeten, besser gestellten Schichten – vor allem auch beim humanen Sterben tief verwurzelt. Auch hierzulande ist es bei einem freiwillensfähigen Suizidenten in der Praxis absolut möglich, ihm von Anfang bis Ende beizustehen – das macht unser Buch wohl endlich dem Letzten klar.

Wer sich gegen den assistierten Suizid ausspricht, verweist häufig auf die Gefahr, dass dadurch eine Grenze überschritten werde, hinter der es kaum noch möglich sei, Entwicklungen aufzuhalten, an deren Ende ein fremdbestimmter Tod stehe. Wird dieser Einwand im Buch reflektiert?

Gita Neumann: Unser Ausgangspunkt ist die empirische Datenlage und darauf aufbauende konkrete Utopien, also wie wir in zivilisierter und humaner Weise zu einem Ausgleich zwischen Suizidverhütung, Lebensbejahung und möglicher Suizidhilfe, zwischen optimaler Versorgung und Sterbehilfeformen im Sinne der Selbstbestimmung des Betroffenen gelangen können. Jeder der neun Autorinnen macht in seinem bzw. ihrem Beitrag deutlich, von diesem Anliegen durchdrungen zu sein. Das Aufzeigen von solchen Lösungsansätzen ist meines Erachtens allemal sinnvoller, als sich mit Horrorszenarien von Gegnern zu befassen, die schon heute in den Niederlanden eine „Kultur des Tötens“ am Werke sehen. Selbstverständlich sind alle möglichen schrecklichen Zukunftsvisionen denkbar (einschließlich der, dass es in absehbarer Zeit gar keine Menschen mehr geben wird). Selbstverständlich sind auch unsere mitteleuropäischen Gesellschaften nicht davor gefeit, in die Barbarei abzugleiten. Die Suizidhilfe im hier aufgezeigten Rahmen wird dazu mit Sicherheit nicht beitragen.

Ein Beitrag befasst sich mit dem freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, der ärztlich begleitet werden kann. Ist das eine Form von assistiertem Suizid oder eine Alternative?

Gita Neumann: Eine Frage, die bis heute ungeklärt ist und es in Zukunft wohl auch bleiben wird. Es handelt sich um einen „dritten Weg“. Wenn jemand z. B. im Endstadium einer schweren Krankheit oder im sehr hohen Alter immer weniger zu sich nimmt, ist das (seit Jahrtausenden) ganz natürlich und dann ist heute der Verzicht auf künstliche Zuführung als legale Sterbehilfe und -begleitung absolut geboten. Wenn sich jemand bewusst und gezielt dieser Methode bedient, um freiwillig in einer absehbaren Zeit von einigen Tagen oder zwei bis drei Wochen aus dem Leben zu scheiden, kann dies als Form des Suizids gelten. Die Art der (Sterbe-)Begleitung und vor allem der damit verbundene pflegerische Aufwand sind im Prinzip dieselben, wie in der Falldokumentation des Hausarztes Hartmut Klähn sehr gut zum Ausdruck kommt.

Wie kann eine umfassende humanistische Sterbebegleitung aussehen?

Gita Neumann: Eine humanistische Sterbebegleitung unterscheidet sich prinzipiell nicht von einer hospizlichen, seelsorgerischen, geriatrischen oder sonstigen. Der Humanistische Verband unterhält ja mehrere krankenkassenfinanzierte Hospizdienste und andere stationäre und ambulante Einrichtungen wie Wohngemeinschaften für Demenzkranke, Pflegestationen usw. Er ist definitiv keine Sterbehilfeorganisation.

Aufgrund meiner über 25-jährigen Erfahrung mit Gesprächen oder bereits weit fortgeschrittenen Entschlüssen zur Selbsttötung sowie auch mit einigen Suizidbegleitungen habe ich jedoch konkrete Vorstellungen entwickelt – die ausführlich in meinem Beitrag im Buch nachzulesen sind. Völlige Übereinstimmung mit der Suizidverhütung besteht darin, dass eine Beziehung zu dem Betroffenen aufzubauen ist, die durch Offenheit und Vertrauen gekennzeichnet ist. Der hilfesuchende Mensch muss sich angenommen fühlen. Seine Todeswünsche sind ernst zu nehmen, ebenso wie ihm mögliche Hilfsangebote zu nennen und zu vermitteln sind (auch Patientenverfügung, Palliativmedizin, vor allem aber: menschliche Begleitung). Sollte es trotz allem zu einem Suizid und dem Wunsch nach Begleitung kommen, kann ich persönlich mir diese nur rein ehrenamtlich – genau wie im ambulanten Hospizdienst – vorstellen.

hpd: Danke für das Gespräch.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Gita Neumann (Hrsg.): Suizidhilfe als Herausforderung. Arztethos und Strafbarkeitsmythos. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Band 5. 243 Seiten, Abbildungen, kartoniert, Euro 20,--; ISBN 978-3-86569-084-5

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.