Kirchliches Arbeitsrecht im 21. Jahrhundert

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Fachgespräch / Fotos: Michael Brade

BERLIN. (hpd) „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ So schreibt es das Grundgesetz in Artikel 140 durch Einbeziehung des Artikels 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung vor. Doch was sind „ihre Angelegenheiten“?

Regeln zur Weihe der Priester, Pfarrerinnen und Pfarrer, Rabbinerinnen und Rabbiner? Selbstverständlich. Vorschriften zur Aufnahme neuer Mitglieder durch entsprechende Rituale? Ohne Frage. Verhaltensregeln für das Privatleben ihrer Angestellten in Betrieben der Sozialwirtschaft? Da gehen die Meinungen auseinander.

In welche Richtungen streben dabei Religionsgemeinschaften, Mitarbeitervertretungen, der Gesetzgeber? Zur Erhellung einer Reihe von Fragestellungen lud die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen zahlreiche Juristen, Mitarbeitervertreter und die Öffentlichkeit für den 2. November 2012 zu einem Fachgespräch ins Paul-Löbe-Haus nach Berlin. Einen halben Tag lang wurde in drei Abschnitten über individuelles und kollektives Arbeitsrecht sowie „Anforderungen an das kirchliche Arbeitsrecht im 21. Jahrhundert“ diskutiert und argumentiert.

Loyal - oder arbeitslos

Ziel des gern als „Antidiskriminierungsgesetz“ bezeichneten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ist u.a. Benachteiligungen aus Gründen der Religion oder Weltanschauung zu verhindern oder zu beseitigen. Das klingt gut und gleichzeitig ambitioniert. Doch was wäre ein Gesetz ohne Ausnahmen? Keines, bei dessen Erstellung nicht kirchliche Interessenvertreter Einfluss genommen hätten. Am 2. November stellten sich sodann auch einige von ihnen den kritischen Fragen der kirchlichen Beschäftigten und der interessierten Öffentlichkeit: Prof. Dr. Ansgar Hense, Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Rolf Lodde, Sprecher der Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes, Dr. Jörg Kruttschnitt, Vorstand Wirtschaft und Verwaltung des Diakonischen Werks der EKD, Prof. Dr. Hans Michael Heinig, Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, aber angekündigt als Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Göttingen.

Mit großen Anstrengungen ließ die römisch-katholische Kirche argumentieren, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) keineswegs das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen infrage gestellt hätte, sondern erfolgreiche Kündigungsschutzklagen entlassener Organisten, Ärzte oder Erzieherinnen nur Einzelfälle seien und keinen Freifahrtsschein für beliebiges Verhalten der Mitarbeiter darstellten. Und hat die Tätigkeit des Organisten und Chorleiters als Teil der Liturgie nicht auch Verkündigungscharakter? Was, wenn eine stundenweise beschäftigte und konfessionsfreie Putzfrau in einer Kita mit den Eltern ins Gespräch kommen sollte? Caritas ist Mission, ist Verkündigung. Demnach greife auch hier das Recht der Kirchen auf Selbstbestimmung, so Prof. Dr. Hense.

Ist die grundgesetzlich zugesicherte Autonomie in der kirchlichen Selbstverwaltung auch ein weitreichendes Selbstbestimmungsrecht? Das Bundesverfassungsgericht hat dieses erweiterte Verständnis in jahrzehntelanger Rechtsprechung zementiert und die Angelegenheiten der Kirchen über das für alle geltende Arbeitsrecht gestellt. Erst jüngere Entscheidungen des EGMR haben dazu geführt, dass nun eine „offene, alle sowohl auf Kirchen- als auch Arbeitnehmerseite relevanten, insbesondere auch sozialen, Aspekte einbeziehende Abwägung“ an deutschen (Arbeits-) Gerichten stattfindet. Dazu gehöre auf Seiten der Beschäftigten auch, deren betriebliche Position, ihre Beschäftigungsdauer, den Grad sozialer Abhängigkeit, geringe Arbeitsmarktchancen z.B. aufgrund einer „anderweitig nicht sinnvoll verwertbaren Spezialausbildung (z.B. die als Organist)“, das Lebensalters oder ein Beschäftigungsmonopol kirchlicher Arbeitgeber in bestimmten Gegenden zu berücksichtigen. Prof. Dr. Ulrich Hammer, Rechtsgutachter und Mitglied der Humanistischen Union, stellte dies klar und wies außerdem darauf hin, dass eine gesetzliche Definition, was verkündigungsnahe Tätigkeiten nun eigentlich sind, ein unzulässiger Eingriff in das kirchliche Selbstverwaltungsrecht sei. Seine Zusammenfassung: „Im Arbeitsrecht gibt es nunmal Hierarchien, aber vor Gott sind alle gleich. Nun versuchen Sie mal, DAS in Einklang zu bringen!“

Kann denn streiken Sünde sein?

Wer die Begriffe Tarifvertrag, Betriebsrat oder Mitbestimmung kennt, wird derlei Errungenschaften bei kirchlichen Arbeitgebern vergeblich suchen, vom Grundrecht auf Streik (Artikel 9 Grundgesetz) ganz zu schweigen. Stattdessen wird man auf so genannte einvernehmlich erarbeitete Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) und Mitarbeitervertretungen (MAV) ohne Mitbestimmungsrechte stoßen.

Die Diakonie betrachte Streik (Arbeitskampf) als ihren Wertvorstellungen nicht entsprechendes Verhalten, ohnehin seien 90 Prozent ihrer Einrichtungen tarifgebunden, so Dr. Jörg Kruttschnitt. Ja, die AVR-Landschaft sei zersplittert, aber das sei in der nichtkirchlichen Tarifwelt auch nicht anders.

Ein weiterer Vertreter der Diakonie-Dienstgeber im Publikum wies – übrigens von ver.di unbestritten – auf die 550 unterschiedlichen Tarifverträge allein in Niedersachsen hin, von denen pro Jahr ca. 50 neu zu verhandeln wären; echtes Lohndumping fände ohnehin nur bei der „privaten Konkurrenz“ aufgrund des Kostendrucks vonseiten Land und Kommunen statt. Säkulares Recht böte also kein Mehr an Sicherheit und Lohn.

Dass dies ein verzerrtes und weichgespültes Bild sei, kommentierte daraufhin Herr Meese, ehemaliger Mitarbeitervertreter einer diakonischen Einrichtung in Niedersachsen.

Auch der Caritasvertreter Rolf Lodde behauptete, dass Lohndumping schon lange kein Thema mehr sei, musste jedoch einräumen, dass die Arbeiten durch sehr viele nur in Teilzeit oder geringfügig Beschäftigte ausgeübt werden. Doch die AVR-Entgelte seien ca. 20 Prozent höher als vergleichbare ver.di-Tarifverträge, und ein „schwarzes Schaf“ wäre ohnehin nur ein solcher katholischer Träger, der mit ver.di einen Tarifvertrag abschließe. Somit wären die Caritas-AVRs am ehesten geeignet, um für allgemeinverbindlich erklärt zu werden; in einem ersten Schritt wären so genannte Mindestarbeitsbedingen denkbar. (Ein Schelm, wer nun vermutet, dass die Caritas der CDU diese Idee nahegebracht hat!)

Heftiger Protest gegen die Darstellungen der Arbeitgeberseite regte sich bei den Mitarbeitervertretern.

Daniel Wenk aus der Arbeitsrechtlichen Kommission des Ev. Kirche Baden und Mitglied des Gesamtausschusses der MitarbeiterInnen, machte deutlich, dass die AVRs in den oberen Entgeltgruppen zwar nahe am Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) seien, in den unteren Gruppen jedoch bis zu 600 Euro unter den tarifrechtlichen Abschlüssen zurück blieben. Entgeltverhandlungen auf Augenhöhe fänden nicht statt. Öffnungsklauseln in den Satzungen der Diakonischen Werke eröffneten die Möglichkeit, mitarbeiterfreundliche Verhandlungsergebnisse auszuschalten, indem die z.B. die Bundes-AVR angewendet wird. Ferner könne es durch Ausgründungen und der kaum durchschaubaren Verflechtungen der Diakonischen Werke sogar vorkommen, dass innerhalb ein und derselben Stadt einzelne Einrichtungen einen Konkurrenzvorteil haben. Allein in Baden kämen acht verschiedene AVRs zur Anwendung, für reguläre Tätigkeiten würden Hilfskräfte beschäftigt und entsprechend gering vergütet.

Der ver.di-Bundesvorstand, vertreten durch Berno Schuckart-Witsch, erteilte der Behauptung von 90 Prozent Tarifbindung bei der Diakonie mit dem Wort „Etikettenschwindel“ eine klare Abfuhr, da das Tarifvertragsgesetz ja gar nicht zur Anwendung kommt. Eine Forderung der EKD-Synode von 2011 in Magdeburg, nämlich belastbare Daten über die Arbeitsentgelte von Diakoniebeschäftigten für eine Studie zu erfassen, sei bis heute nicht erfüllt. Bekannt sei jedoch aus einer diakonieinternen Erhebung, dass 80 Prozent aller Angestellten Frauen sind, 70 Prozent von ihnen im unteren Lohnsektor einzuordnen sind und zu knapp 60 Prozent in befristeten oder Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen stehen. Für die Mitarbeiter der betriebswirtschaftlich orientierten Unternehmen und Konzerne (darunter Konglomerate mit bis zu 17.000 Angestellten) könne die Lösung nur in einem „Tarifvertrag Soziales“ bestehen, wobei eine Tarifbindung von über 50 Prozent angestrebt wird, um ihn für allgemeinverbindlich erklären zu können. Zwar sinke allgemein die Tarifbindung in Deutschland, jedoch taugt dies für Caritas und Diakonie nicht als Gegenargument, da sie ja den Anspruch erheben, dass es ihren Angestellten besser gehe. Wo weltliche Arbeitsverträge abgeschlossen würden, müsse auch weltliches (Arbeits-) Recht gelten.

Ein ehemaliger Diakonieangestellter und jetziger Betriebsrat bei einem weltlichen Sozialträger berichtete, dass sich Kolleginnen und Kollegen der umliegenden kirchlichen Einrichtungen bei ihm die Klinke in die Hand geben und über Defizite im Arbeits- und Gesundheitsschutz klagten, was sich auch in der Bezahlung manifestiere und häufig zu Burnout-Erscheinungen führe. Die „Feudaleinstellung“ der kirchlichen Arbeitgeber mache es unmöglich, auf Augenhöhe angemessene Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Caritas und Diakonie drohe ganz besonders ein Fachkräftemangel, da die Arbeitnehmerinnen und -nehmer zukünftig wohl einfach mit den Füßen abstimmen werden.

Wenn’s ums Ganze geht

Prof. Dr. Jens Schubert, Bereichsleiter Recht und Rechtspolitik bei der ver.di-Bundesverwaltung, nahm sich zunächst den aktuellen Slogan der Bündnisgrünen-Bundestagsfraktion vor: „Uns geht’s ums Ganze“. Das hieße für ihn: Für die Arbeitnehmer zu sein, und nicht gegen die Kirchen. Letztere nutzten das weltliche Arbeitsrecht, warum aber nicht in Gänze? Der daraus resultierende Wettbewerbsvorteil könnte unter europarechtlicher Betrachtung demnächst „interessant werden“. So könne man erwarten, dass die Privatwirtschaft die den Kirchen und ihren Unternehmen eingeräumten Sonderrechte, die über den allgemeinen Tendenzschutz weit hinausgehen, gerichtlich „monieren“ werden.

Streiks seien verfassungsrechtlich ein Grundrecht, und so müsse der Blick von Art. 9 des Grundgesetzes aus auf das kirchliche Arbeitsrecht gerichtet werden; nicht andersherum. Schließlich würden Streiks ja nicht mit dem Ziel geführt, die morgendliche Andacht abzuschaffen, sondern um die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Was die so genannten Loyalitätspflichten der Angestellten angeht, so habe ihm sogar ein nicht näher bezeichneter CDU-Bundestagsabgeordneter am Rande einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung gesagt, „die kirchlichen Arbeitgeber sollten mal lieber ihre Einmischung in den Sex bleibenlassen“.

Einfachere Tätigkeiten, die am Arbeitsmarkt wenig nachgefragt werden, seien in die untersten Lohngruppen eingestellt, vielfach fehlten zudem genaue Stellenbeschreibungen. Die Gewerkschaften werden dies nicht länger dulden. Und wenn das Handeln der kirchlichen Arbeitgeber weiter gegen die eigenen Wertevorstellungen verstoße, würden sie ein Akzeptanzproblem bekommen. Sofern sie das nicht schon hätten.

Prof. Dr. Hans Michael Heinig, Chef des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, warf „bestimmten Interessensgruppen“ vor, die Debatte um das kirchliche Arbeitsrecht für heimliche laizistische Bestrebungen zu missbrauchen. Es müsse zunächst einmal bewiesen werden, dass der kirchliche Dienstgeber mit dem 3. Weg im Arbeitsrecht schlechtere Arbeitsbedingungen durchsetzen kann als mit weltlichem Recht. Dies könne er nicht erkennen. Wenn Nichtchristen zudem in Betriebsräten von Diakonie und Caritas weitgehende Mitbestimmungsrechte bekämen, entstünde ein theologisches Problem: Karitative Arbeit ist Mission und damit Verkündigung. Dies sei wiederum mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unvereinbar.

Politische Hausaufgaben

Obgleich sich konfessionsfreie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchennahen Unternehmen zurecht durch das missionarische Gebaren bedrängt fühlen, müssen kirchliche Arbeitgeber in ihren Personalentscheidungen konsistent bleiben, wollen sie nicht nach aktueller Rechtslage zunehmend bei Kündigungsschutzklagen unterliegen; was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich Caritas und Diakonie bei Kündigungen nicht mehr auf Loyalitätspflichtverletzungen berufen können, wenn sie bereits Geschiedene, Wiederverheiratete, Konfessionsfreie oder Andersgläubige beschäftigen. Zu schaffen ist in diesem Zusammenhang ein Verfahrensrecht, das eine alle relevanten, insbesondere auch sozialen Aspekte einbeziehende Abwägung bei Kündigungen regelt. Und selbst EKD-Kirchenrechtler Prof. Dr. Heinig musste zugestehen, dass die Kirche auch ohne den 3. Weg im Arbeitsrecht weiter bestehen werde.

Zwar fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei Bündnis 90/Die Grünen, dem § 9 AGG einen Absatz 3 anzufügen, der verkündigungsferne Tätigkeiten aus dem besonderen Tendenzschutz ausnimmt. Doch dies bedeutete in der Praxis eine Flut von Klagen und verstieße zudem gegen das kirchliche Selbstverwaltungsrecht in der vorliegenden höchstrichterlichen Interpretation. Außerdem sind Menschen mit kirchennahen Berufen außerhalb der Glaubensinstitutionen häufig nicht anstellungsfähig. Man denke an den erfolglos gekündigten Organisten.

Was den Kostendruck angeht, der in Form von befristeten und Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen Ausdruck findet, sind die Länder und Kommunen gefragt, ihre Sozial- und Kulturbudgets mit adäquaten Mitteln auszustatten. Dies käme allen freien Trägern zugute.

Volker Beck, erster parlamentarischer Geschäftsführer der Bündnisgrünen-Bundestagsfraktion und einer der Moderatoren des Fachgespräches, brachte zuletzt noch den waghalsigen Vorschlag ins Spiel, der „2. Weg“, also normales, weltliches Arbeitsrecht, solle immer dann ausnahmslos gelten, wo kirchliche Träger staatliche Mittel nach dem Subsidiaritätsprinzip erhalten, also von Kommunen, Ländern, Bund oder Sozialkassen. Doch diese zunächst charmante Idee könnte sich als rechtswidrige Verknüpfung mit sachfremden Kriterien erweisen und in der Diskussion auflösen – man denke an den Vorschlag, Tariftreueklauseln im Vergaberecht zu verankern.

Und was spräche selbst bei Durchsetzung der Idee gegen die Gründung einer Zentralstelle für die Akquise der Geldmittel, wodurch die ins Spiel gebrachte Regelung ausgehebelt würde.

Michael Brade