NORDKOREA. (hpd). „Wir sind stolz auf unser ausgezeichnetes System zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte in unserem Land." So äußerte sich kürzlich Nordkoreas Delegierter Kim Song vor dem Menschenrechtsausschuss der UNO-Vollversammlung. Die Existenz von Arbeitslagern wird von der Regierung Nordkoreas geleugnet. Marc Wiese bringt nun mit „Camp 14“ das Ausmaß der dortigen Menschenrechtsverletzungen in unser Bewusstsein.
- Wer die Flucht ergreift, wird sofort erschossen.
- Wer jegliche Nahrungsmittel im Arbeitslager stiehlt oder versteckt, wird sofort erschossen.
- Wer gegenüber dem Lehrer der Nationalen Sicherheitsbehörde Unzufriedenheit hegt oder tätlich wird, wird sofort erschossen.
- Wer sich gegenüber den Anordnungen des Lehrers der Nationalen Sicherheitsbehörde unaufrichtig oder ungehorsam verhält, wird sofort erschossen.
- Wer einen Außenstehenden versteckt hält oder beschützt, wird sofort erschossen.
- Man muss die Worte und das Verhalten anderer Personen aufmerksam verfolgen und im Falle einer Merkwürdigkeit dies umgehend dem zuständigen Lehrer der Nationalen Sicherheitsbehörde melden.
- Wer die ihm zugeteilten Aufgaben vernachlässigt oder nicht ausführt, dem wird Unzufriedenheit gegenüber den Regeln vorgeworfen und wird sofort erschossen.
- Die Durchführung der einem gegebenen Aufgaben ist der einzige Weg, seine Schuld zu bereinigen und sich gegenüber den Gesetzen, die Gnade walten ließen, dankbar zu zeigen.
- Wenn ohne Erlaubnis körperlicher Kontakt zwischen Männern und Frauen besteht, werden sie sofort erschossen.
- Wer seine Schuld nicht einsieht und sich seiner Schuld nicht fügt oder gegenüber seiner Schuld eine eigene Meinung bildet, wird sofort erschossen.
- Man muss gewissenhaft an der Versammlung zur ideologischen Auseinandersetzung sowie an der Sitzung zur Selbstkritik teilnehmen und aufrichtig an sich und an anderen Kritik üben.
- Bei Missachtung der Regeln und Vorschriften des Arbeitslagers wird man sofort erschossen.
Dies sind einige der Regeln, die für Shin Dong-hyuk ab dem 19. November 1983 verbindlich waren, ab diesem Tag war er ein politischer Gefangener im politischen Umerziehungslager Kaechon (Camp 14). Es ist der Tag, an dem er als Kind zweier Häftlinge geboren wurde. Sein Vater hatte für gute Arbeitsleistung eine Frau zugeteilt bekommen, die von ihm schwanger wurde. Ab seinem sechsten Lebensjahr begann für ihn die Zwangsarbeit im Lager, die er nach seinen täglichen Besuchen der Lagerschule verrichten musste. Mit 23 Jahren gelang Shin schließlich die Flucht aus Camp 14, nach verschiedenen Stationen lebt er heute in Südkorea.
2009 gelang es dem Regisseur Marc Wiese, sich mit Shin Dong-hyuk zu treffen und ihn für die Verfilmung seiner Lebensgeschichte zu gewinnen. Diverse andere Angebote hatte Shin immer wieder abgelehnt. Eine vorherige Besprechung mit Shin war nicht möglich, er sagte dem Regisseur er könne seine Geschichte nicht zweimal erzählen. Auch die Dreharbeiten gestalteten sich schwierig, oft war es für Shin schon nach kurzem Gespräch nicht mehr möglich weiterzusprechen. „Nachdem er uns erzählte, wie er im Gefängnis war mit vierzehn und dann sieben Monate lang gefoltert wurde, da war er danach zwei, drei Tage verschwunden. Da war er einfach weg. Ich wusste nicht, wo er war“, berichtete Marc Wiese in einem Interview über die Dreharbeiten.
Die Umstände, unter denen die 40.000 Gefangenen im 500 Quadratkilometer großen Camp 14 leben müssen, sind unvorstellbar: Pro Tag erhält ein erwachsener Häftling 700 Gramm Mais, ein Kind 300, dazu ein wenig Chinakohl und Salz. Wenn allerdings ein Wärter mit der Arbeitsleistung nicht zufrieden ist, kann er diese Ration beliebig nach eigenem Ermessen reduzieren. Nach einer Schätzung von Amnesty International sterben ca. 40% der Insassen an Unterernährung. Shin beschreibt, dass er und seine Mutter, für die zum Schlafen nur der Betonboden ihrer ungeheizten Baracke zur Verfügung stand, Ratten fingen und aßen, um zu überleben. Erschießungen und Folter sind an der Tagesordnung; das gilt auch für Kinder. Die Zwangsarbeit müssen die Gefangenen in den im Lager befindlichen Textil-, Keramik- und Gummifabriken, in Kohlebergwerken oder landwirtschaftlichen Farmen verrichten. Die Sicherheitsstufe des Lagers wird von den Wärtern als „Total Control Zone“ bezeichnet. Wer in ein solches Lager deportiert wird, kann nicht mehr auf seine Entlassung hoffen.
„Vorrang gebührt der ideologischen Umformung“*
Die „progressive Ideologie spielt eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung“*, die Juche-ideologie beinhaltet ein philosophisches Menschenbild nach welchem „der Mensch Herr über alles ist und alles entscheidet. […] das bedeutet, daß der Mensch Herr der Welt und seines eigenen Schicksals ist.“*
Camp 14 liegt in einem Land, das immer noch unter einem stalinistischen System steht, einem „Sozialismus unserer Prägung“, wie es dort genannt wird. Der Staatsgründer Kim Il Sung begründete die Juche-Ideologie (sprich: Dschutsche-Ideologie), die davon ausgeht, dass Leninismus und Marxismus nicht mehr zeitgemäß seien, die Juche-Ideologie durch ihre Weiterentwicklung aber ewig Geltung habe. Sie fordert absolute Autarkie für Nordkorea, sowohl wirtschaftlich als auch ideologisch und militärisch („Solange der Imperialismus existiert, kann solch ein Land ohne eine verteidigungsfähige Streitmacht das eigene Land vor inneren und äußeren Feinden nicht schützen und kein wahrhaft souveräner und unabhängiger Staat sein“)*.
* Zitate aus: „Über die Dschutsche-Ideologie“, Kim Jong Il, 1987, Verlag für Fremdsprachige Literatur, Pjongjang [Nord-]Korea.
Nordkoreas Armee hat ständig über eine Million Soldaten unter Waffen. In diesem Zusammenhang muss sowohl erwähnt werden, dass die Gesamtbevölkerung Nordkoreas bei knapp über 24 Millionen liegt, aber auch, dass die Armee diverse landwirtschaftliche Aufgaben und Bau-Aufgaben übernimmt. Die Ausrüstung der Armee gilt als veraltet.
Während der Delegierte Nordkoreas vor dem Menschenrechtsausschuss der Uno-Vollversammlung den Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung und Bildung in seinem Land lobt, ist dieser abhängig davon, zu welcher Klasse man gezählt wird. Es gibt die drei Hauptklassen der „loyalen Personen“, „schwankenden Personen“ und der „feindliche gesinnten Personen“ (Zu letzterer Klasse gehörte Shin ab dem Augenblick seiner Geburt in Camp 14.). Dieses Klassensystem wurde in den 50er Jahren eingeführt und in den 60er Jahren durch die Untergliederung in 51 Untergruppen weiter ausgebaut. Zu welcher Klasse man gehört, entscheidet über den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung.
Diese Versorgung ist allerdings selbst für die Klasse der loyalen Personen mehr als mangelhaft. Lebenswichtige Operationen wie Blinddarmentfernungen mussten (bestätigt zumindest für die 90er Jahre) teilweise ohne Narkose durchgeführt werden. Die Versorgung ist insbesondere auf dem Land sehr schlecht. Nordkorea hat eine sehr hohe Tuberkuloserate und auch Hepatitis (Hauptsächlich Typ A) ist stark verbreitet. Impfungen fehlen im Prinzip vollständig. Das Auswärtige Amt stuft die medizinische Versorgung als „landesweit äußerst unzureichend“ ein: „Wegen des allgemeinen Mangels an Medikamenten, Verbandsstoffen, medizinischen Instrumenten und Hilfsmitteln wird eine gut ausgestattete Reiseapotheke empfohlen. Krankenhäuser, selbst die speziell für Ausländer vorgesehenen, bieten keinen westlichen Standard. Ernstere Erkrankungen müssen deshalb in anderen Ländern behandelt werden.“ Auch die Trinkwasseraufbereitung ist „mangelhaft“.
Mit dem Tod Kim Il Sungs 1994 und dem Machtwechsel auf Kim Jong Il nach einer dreijährigen Trauerzeit hat das Militär an Einfluss gewonnen, das Amt des Präsidenten ist freigeblieben. Kim Il Sung gilt als „ewiger Präsident“, auch wenn Kim Jong Il später ebenfalls als „Großer Führer“ bezeichnet wurde wie früher sein Vater. Nach seinem Tod am 17. Dezember 2011 wurde Kim Jong Il zum „Ewigen Generalsekretär“ und „Ewigen Vorsitzenden“ der Koreanischen Arbeiter Partei, sein Nachfolger wurde sein jüngster Sohn Kim Jong Un.
„Ich hatte nicht gelernt, dass man bei der Hinrichtung seiner Mutter Tränen vergießen muss.“
Der Mann, der Marc Wiese im Interview gegenübersitzt, erzählt ihm von einer Situation, die beinahe unmöglich zu begreifen ist. Als Shin 14 Jahre alt ist, belauscht er ein Gespräch zwischen seinem Bruder und seiner Mutter. Sein Bruder ist von der Fabrikarbeit geflohen, was sein Todesurteil bedeutet, worauf die Mutter ihm rät einen Fluchtversuch zu unternehmen. Shin meldet dies seinem Lehrer der Nationalen Sicherheitsbehörde, warum, versucht er im Interview mit dem Regisseur zu erklären. Zum einen dachte er, es sei das richtige Verhalten, hatte man ihm dies doch, seit er denken kann, eingetrichtert; die Welt außerhalb des Lagers kannte Shin nicht einmal aus Erzählungen. Zum anderen empfand er eine unbeschreibliche Wut, da seine Mutter dem Bruder eine kleine Portion gekochten Mais mitgab und er von ihr noch nie etwas aus dem kleinen Geheimvorrat erhalten hatte.
Am nächsten Tag wurde Shin aus der Lagerschule abgeholt und ins Lagergefängnis gebracht. Hier wurde er für sieben Monate verhört und gefoltert. Dabei wurde er unter anderem an die Decke gehängt und unter seinem Rücken ein Feuer entfacht. Von einem Mitgefangenen, der seine schweren Brandverletzungen versorgte (soweit es unter den Umständen möglich war), erlebte er hier zum ersten Mal in seinem Leben menschliches Mitgefühl. Dass Menschen einander helfen könnten – allein diese Idee war für den damals 14jährigen unvorstellbar gewesen.
Shin wird nach sieben Monaten entlassen und direkt aus dem Gefängnis zur öffentlichen Hinrichtungsstelle gebracht. „Ich sah mit meinen eigenen Augen, wie meine Mutter und mein Bruder öffentlich hingerichtet wurden. Meine Mutter wurde gehängt und mein Bruder erschossen. Ich empfand dabei keine Gefühle, da mir mein ganzes Leben lang das Konzept einer Familie völlig fremd war. Ich empfand nichts dabei, als sie getötet wurden. Ich dachte, dass sie es wegen ihrer Vergehen verdient hätten.“
Alle Insassen von Camp 14 müssen den öffentlichen Hinrichtungen beiwohnen; nur wer wichtigste Aufgaben zu erfüllen hat, muss nicht zusehen. Mit 4 Jahren musste Shin zum ersten Mal in Begleitung seiner Mutter einer Hinrichtung zusehen. Dies ist auch, wie er im Interview mit Marc Wiese erzählt, seine erste Kindheitserinnerung.
„Wir dachten, dass dies notwendig sei, um unser Land zu schützen.“
In seinem Film „Camp 14“ hat Marc Wiese nicht nur mit Shin Dong-hyuk über die Lager in Nordkorea gesprochen, es ist ihm auch gelungen, zwei hochrangige Täter zum Gespräch zu bewegen.
Kwon Hyuk, ehemaliger Kommandant der Wärter in Camp 22, einem anderen Lager, das sich im nordöstlichen Teil des Landes befindet, lebt heute mit seiner Familie in Seoul, Südkorea. Für jede Hinrichtung eines Häftlings erhielt er Sonderrationen, Fleisch und zwei Flaschen Alkohol. Es ist nicht einfach, den Berichten dieses Mannes zuzuhören, den Marc Wiese als „einfach gestrickt“ bezeichnet. Ohne eine sichtbare Spur von Anteilnahme berichtet er, wie er Menschen ermordet und zu Tode folterte, Frauen vergewaltigte und sie umbrachte, wenn sie schwanger wurden. Er erzählt auch, was man in Nordkorea tun muss, um in ein Lager deportiert zu werden. Nennt man zum Beispiel die Führer Kim Il Sung oder Kim Jong Il beim Namen und verzichtet auf die Anrede „Dongji“ („Genosse“), dann ist das schon ein ausreichender Grund. Oder wenn man aus dem Zeitungspapier der Rodong Sinmun, dem Sprachorgan der Partei der Arbeit Koreas Zigaretten dreht und dabei übersieht, dass ein Bild von Kim Il Sung auf dieser Seite der Zeitung ist. Einige Aufnahmen, die im Film gezeigt werden, wurden von Kwon zur Verfügung gestellt, er hatte sie heimlich im Lager gefilmt.
Oh Yangnam hat für den Geheimdienst der Polizei in Nordkorea hunderte Menschen festgenommen und in die Lager deportiert, an Verhören bzw. Folterungen teilgenommen. Während er von seinen eigenen Taten erzählt, hat er immer wieder sichtbar Schwierigkeiten direkt in die Kamera zu sehen, er blickt ständig unruhig hin und her, steht wiederholt vom Stuhl auf und stellt klar, dass er nach diesem Interview niemals wieder über diese Zeit sprechen wird. Er berichtet, wie ganze Familien deportiert wurden, da in Nordkorea die Sippenhaft gilt. „Ich bereue zutiefst, dass ich so grausam gehandelt habe“, sagt er gegen Ende des Interviews, „Ich bedaure in Nordkorea geboren zu sein. Warum habe ich mich so verhalten? Wir sind doch alle gleiche Menschen.“ Vor einer Wiedervereinigung Koreas hat er große Angst, der Gedanke, einem seiner Opfer gegenüberzustehen, ist für ihn unerträglich.
Marc Wiese ist es wichtig, die beiden Täter nicht als Monster zu zeigen, sondern als von einem totalitären System geformte Menschen. Daher zeigt er Hyuk Kwon auch in seinem heutigen Privatleben als Familienvater. Oh Yangnam lehnte alles außer einen Interview an einem neutralen Ort ab. Seine Rechtfertigungsversuche, er war von der Notwendigkeit dieser Grausamkeiten zum Schutz des Vaterlandes überzeugt klingen recht vertraut; es ist deutlich zu sehen, dass ihn diese selbst nicht überzeugen können.
Flucht aus Camp 14
Nachdem Shin von dem neu internierten Häftling Park Yong Chul erfuhr, dass es eine Welt außerhalb von Camp 14 gibt und das diese anders funktioniert als das Leben im Lager, reift nach einer Weile der Gedanke an Flucht in ihm heran. Er möchte wenigstens einmal diese Welt außerhalb gesehen haben oder sich sogar ein einziges Mal sattessen.
Beim Sammeln von Feuerholz bietet sich Shin und Park dann in einem unbeobachteten Moment die Gelegenheit zur Flucht durch den Elektrozaun. Park wird von einem Stromschlag getötet, seine Leiche zieht aber die unteren Stromkabel so weit herunter, dass Shin über ihn aus dem Lager entkommen kann. Ein Stromschlag versengt seine Beine, aber er überlebt. Nach einer monatelangen Flucht durch Nordkorea und China gelangt er nach Seoul in Südkorea, wo er vor einer Auslieferung nach Nordkorea sicher ist. Als er direkt nach seiner Flucht zum ersten Mal „freie“ Menschen in Nordkorea erblickt, kam es ihm so vor, dass „diese Welt das Paradies sein müsste“. Die Menschen wurden nicht überwacht und trugen bunte Kleidung. Niemand musste die Polizeibeamten beim Vorbeigehen grüßen.
Heute ist die Flucht über China deutlich schwieriger als damals, die Grenze wird viel stärker militärisch bewacht, auf Flüchtlinge wird sofort geschossen. Selbst wer bis nach China schafft, ist nicht in Sicherheit; China liefert Flüchtlinge nach Nordkorea aus, was einem Todesurteil gleichkommt. Das nächste Land der Region, das Flüchtlinge nach Südkorea ausreisen lässt, ist Thailand. Eine direkte Flucht von Nord- nach Südkorea ist für Zivilisten so gut wie unmöglich, die beiden Staaten sind am 38. Breitengrad durch eine 4 Kilometer breite sogenannte Demilitarisierte Zone (DMZ) getrennt, an der sich seit 60 Jahren die beiden Armeen der Staaten gegenüberstehen.
Versorgungssituation im sozialistischen Arbeiterparadies
„Uns fehlt es an nichts in der Welt“ singen die Nordkoreanischen Arbeitstrupps währen ihrer Arbeitseinsätze.
1994, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Tod des Staatsgründers Kim Il Sung, wurde Nordkorea von Naturkatastrophen wie Überflutungen und Dürren heimgesucht. Von der Bevölkerung Nordkoreas wurden diese Ereignissen im Zusammenhang mit dem Tod ihres Führers gesehen, „die Erde war so traurig [über Tod Kim Il Sungs] dass auf ihr nichts mehr wachsen wollte“, so zumindest der Propaganda-Apparat. Es folgte der Zusammenbruch des staatlichen Lebensmittelverteilungssystems und daraufhin eine Hungerkatastrophe, bei der rund 2 Millionen, d.h. beinahe 10 % der gesamten Bevölkerung innerhalb von einem halbe Jahrzehnt ums Leben kam.
Seit dieser Hungerkatastrophe ist die Ernährungssituation (wie auch schon vor 1994) angespannt, weitere größere Katastrophen blieben seitdem allerdings aus. Jeder Bürger bekam um das Jahr 2000 eine kleine Anbaufläche für Lebensmittel zugewiesen, auf dem Land nutzt die Bevölkerung sogar die Dächer ihrer Behausungen, um Agrarprodukte anzubauen, da die Erträge dieser Fläche kaum zum Überleben ausreichen. Ebenfalls wurden in diesem Jahr von Kim Jong Il Lebensmittelmärkte zugelassen. Zwar entzog er dem Volk dieses Recht zwei Jahre später wieder, die Märkte werden allerdings weiterhin abgehalten. Nordkorea erhält desweiteren umfangreiche Lebensmittellieferungen aus dem Ausland um eine weitere Hungerkatastrophe zu verhindern. Doch trotz der Menge an internationalen Hilfsgütern ist die Ernährungssituation unverändert angespannt.
Hilfslieferungen aus anderen Ländern, insbesondere aus Südkorea, werden nicht immer bzw. nur teilweise angenommen. Während Baumaterialien und Reis immer gerne gesehen werden, wird Säuglingsnahrung oder z.B. auch Instantnudeln abgelehnt. Um dies zu verstehen, muss einem klar sein, dass das Militär vorrangig versorgt wird (und keine Verwendung für Säuglingsnahrung hat) und dass einige Hilfsgüter, die nicht zur eigenen Ideologie passen und daher ungewollte Stimmen in der Bevölkerung wecken könnten. So nimmt Nordkorea z.B. keine Instant-Nudeln aus Südkorea an, diese schmecken um so Vieles besser als die eigenen Produkte, dass man hier einen nachhaltigen Image-Schaden befürchtet.
In den letzten Jahren ist man bemüht unter eingeschränkter Orientierung und Kooperation mit z.B. China und Sürdkorea vereinzelte Sonderwirtschaftszonen mit dem Ziel einzurichten durch den Ausbau der Wirtschaft die Lebensumstände der groß teils hungernden Bevölkerung zu verbessern. Dabei muss man allerdings davon ausgehen, dass die Hauptmotivation der eigene Machterhalt ist.
Die bekannteste dieser Sonderwirtschaftszonen liegt in Kaesong an der Grenze zu Südkorea. Die Nordkoreaner, die in diesen Programmen arbeiten, erhalten eine bessere medizinische Grundversorgung und Nahrungsmittel. Der Lohn dieser Arbeiter liegt mit knapp 60 US-Dollar zwar für Nordkorea extrem hoch, allerdings zieht die Regierung diesen Lohn ein und zahlt den Arbeitern nur einen sehr kleinen Anteil davon im offiziellen deutlich überbewerteten Tauschkurs in Won (Nordkoreanische Währung) aus. Offiziell werden Sozialabgaben abgezogen. Übrig bleibt dem Arbeiter laut der Südkoreanischen Zeitung Chosun Ilbo ein Monatslohn von ungefähr 2 US-Dollar.
Zum Zeitpunkt der Flucht Shins ist ungefähr ein Drittel der Bewohner Nordkoreas unterernährt bzw. mangelernährt, die medizinische Versorgung ist, wie bereits beschrieben, in einem furchtbaren Zustand. Bekommt man seltene Bilder aus dem Alltag der nordkoreanischen Bevölkerung zu Gesicht, ist man von der sichtbaren Armut und unterernährten Bevölkerung oft geschockt, selbst die von der Regierung genehmigten Aufnahmen können nicht den Mythos vom Erfolg dieses ideologischen Staates aufrechterhalten. Dass Shin diese Welt nach der Flucht aus dem Lager als paradiesisch empfindet, ist Aussage genug.
Shin Dong-hyuk
Shin lebt heute, sieben Jahre nach seiner Flucht, in Südkorea und arbeitet gelegentlich mit der Menschenrechtsorganisation LiNK zusammen, der es bisher gelang, 122 Flüchtlinge zu retten. Er sprach auch schon vor einer Kommission in Brüssel, einer Konferenz in Genf und hielt Vorträge in den USA. Er ist schwer traumatisiert und nicht in der Lage, menschliche Bindungen aufzubauen. Für Marc Wise war es unfassbar, als er plötzlich im Interview sagte, er würde zurück ins Lager wollen. „Ich hab die Übersetzerin drei, vier mal gefragt, weil ich das nicht glauben konnte. Jemand der aus dieser Hölle kommt sagt, ich will in diese Hölle zurück. Er will natürlich nicht zurück und erleben dass er gefoltert wird, aber er findet keinen Halt in seinem neuen Leben. Er ist total überfordert.“ Eine therapeutische Behandlung hat er abgebrochen und lehnt einen weiteren Versuch ab.
Filmfazit
Die Interviews zwischen Marc Wiese und Shin Dong-hyuk hatten sich durch den Zustand, in dem sich Shin befindet, sehr schwierig gestaltet. Ein vorheriger Probedurchlauf war, wie zu Beginn des Artikels bereits erwähnt, unmöglich, Shin hatte klar geäußert, er könne seine Lebensgeschichte nicht zweimal erzählen, das schaffe er nicht. Auch waren häufig längere Pausen während der Gespräche nötig. Shin hatte bis dahin diverse Anfragen eine Dokumentation zu drehen abgelehnt, nur weil dieses Mal keinerlei Druck auf ihn ausgeübt wurde stimmte er nach einer längeren Zeit plötzlich zu seine Geschichte für Camp 14 zu erzählen.
Marc Wiese rüttelt mit seinem Film Camp 14 wach. Während man in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit Nordkorea häufig nur vom „kommunistischen Disney-Land“ oder dem „Dem Irren mit der Bombe“ spricht oder ähnliche Verharmlosungen zu hören bekommt, zeigt er die schockierende Menschenrechtslage ungeschönt. Ohne reißerisch zu werden, stellt er uns einen jungen Mann und seine Lebensgeschichte vor, die so weit von unserer Realität entfernt ist, dass man sie nur schwer glauben kann, ohne diesem Menschen zugehört und ihm ins Gesicht gesehen zu haben. Schlüsselszenen aus Shins Leben hat Marc Wiese durch Animationen zum Leben erwecken lassen. Diese Animationen wurden unter Mithilfe von Shin erstellt.
In Camp 14 stellen die Täter Ihre Perspektive dar ohne im Vorfeld bereits durch Kommentare in ein Täterprofil gesteckt zu werden. Auf diese Art erhalten wir einen relativ einmaligen Einblick in den Alltag der Arbeitslager aus einer zusätzlichen und sehr seltenen Perspektive.
Aktuell sind etwa 40.000 Menschen in Camp 14 inhaftiert, in ganz Nordkorea befinden sich aktuell rund 200.000 Menschen in Arbeitslagern.
Nicolai A. Sprekels | Anonym (Der Redaktion bekannt.)
Camp 14. Total Control Zone. Ein Film von Marc Wiese. Seit 8. November im Kino.