Neuausgabe von Peter Kropotkins „Ethik“

(hpd) Der anarchistische Theoretiker Peter Kropotkin arbeitete bis Anfang der 1920er Jahre an dem Buch „Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten“, worin die Entstehung einschlägiger Auffassungen zum Sozialverhalten aus der Evolution abgeleitet wird. Der Klassiker kann als früher Beitrag zum Selbstverständnis eines naturalistischen Humanismus gelesen werden, was nicht Kritik an einzelnen Aspekten des Werkes ausschließt.

Peter Kroptikin (1842-1921) gilt heute allgemein als vergessen. Es gibt meist nur zwei Anlässe bzw. Bezüge, die seinen Namen in Erinnerung rufen: Einerseits gehörte er zu den bedeutendsten anarchistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts. Bezüglich des Niveaus und der Stringenz seine Schriften kann Kropotkin sogar als wichtigster Denker dieses politischen Lagers gelten. Seine zeitweilige Bejahung anarchistisch motivierter Attentate reduziert nicht die notwendige intellektuelle Wertschätzung seiner Werke.

Andererseits taucht Kropotkins Name in der jüngeren Literatur zur Evolutionsforschung immer wieder auf. In seinem bekanntesten Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ (1902) hatte er gegen sozialdarwinistische Fehldeutungen auf Altruismus und Solidarität als konstitutive Begleiterscheinung der natürlichen Entwicklung aufmerksam gemacht. Insbesondere die Erkenntnisse der Soziobiologie bestätigten die Grundtendenz seiner frühen Aussagen.

An sie knüpft auch das Buch „Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten“ an: Kropotkin plädierte darin für eine Auffassung von den Idealen für das menschliche Miteinander, welche sich nicht auf göttliche oder metaphysische Begründungen stützt. Vielmehr plädierte er für eine realistische Ethik ohne Aberglaube und Mythologie auf der Basis der Natur: „Das Ziel der Moral darf nicht etwas ‚Transzendentales“, d.h. Übernatürliches sein, wie es einige Idealisten haben möchten; es muss real sein. Die sittliche Befriedigung müssen wir im Leben, nicht aber in irgendeinem Zustand außerhalb des Lebens finden“ (S. 27).

Hinsichtlich der Elemente für eine neue Auffassung der Sittlichkeit bemerkte Kropotkin: „Die Bedeutung der Geselligkeit und der gegenseitigen Hilfe in der Entwicklung der Tierwelt und in der Geschichte des Menschen kann als eine ganz feststehende, hypothesenfreie wissenschaftliche Wahrheit angesehen werden. Außerdem können wir als bewiesen betrachten, dass ... ihre bloße Ausübung zur Entwicklung des Gerechtigkeitsgefühls mit seinem unvermeidlichen Gefühl der Gleichheit ... führt“ (S. 44).

„Gegenseitige Hilfe“, „Gerechtigkeit“ und „Sittlichkeit“ seien die aufeinander folgenden Schritte einer aufsteigenden Reihe im Sinne einer organischen Notwendigkeit. Die geistes- und realgeschichtliche Dimension dieser Entwicklung bildet den inhaltlichen Schwerpunkt von Kropotkins „Ethik“-Band: Er geht zunächst auf das sittliche Prinzip in der Natur und bei primitiven Völkern ein. Danach nimmt der Autor die Entwicklung vom antiken Griechenland über das christliche Mittelalter bis zur aufklärerischen Neuzeit ins Visier. Hierbei macht er die Existenz derartiger Einsichten bei den unterschiedlichsten Denkern von Hobbes und Kant über Mill und Feuerbach bis zu Darwin und Spencer deutlich.

Dann bricht die Darstellung abrupt ab, wofür es folgenden Grund gibt: Kropotkin plante ursprünglich ein zweibändiges Werk zum Thema. Er schrieb daran im hohen Alter, dazu in gesellschaftlicher Isolation im bolschewistischen Russland und mit nur eingeschränktem Zugang zu Büchern. Erst nach seinem Tod erschienen die Fragmente des „Ethik“-Bandes als eigenständiges Werk.

Warum macht eine Neuausgabe im Jahre 2013 Sinn? Kropotikin nahm spätere Forschungsergebnisse über die natürliche Bedingtheit menschlicher Solidarität vorweg und präsentierte ein Gegenmodell zur sozialdarwinistischen Deutung der Evolution. Damit lieferte er bedeutende Beiträge zum Selbstverständnis eines modernen naturalistischen Humanismus. Gleichwohl darf man kritikwürdige Aspekte des Werks nicht ignorieren. Michael Schmidt-Salomon macht in seinem Vorwort auf einige dieser Aspekte aufmerksam.

Folgende Punkte seien hier unabhängig davon besonders hervorgehoben: Kropotkin argumentierte allzu sehr naturalistisch, wodurch die Entwicklung der Kulturation nicht genügend Aufmerksamkeit findet. Er ging auch von einer Entwicklung hin zu einer besseren Welt im Sinne einer historischen Notwendigkeit aus. Und schließlich deutete Kropotkin die evolutionäre Entwicklung ebenso einseitig positiv wie die Sozialdarwinisten sie einseitig negativ deuteten. Hier dominierte der anarchistische Ideologe über den nüchternen Wissenschaftler.

Armin Pfahl-Traughber

Peter Kropotkin, Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten (1923), Aschaffenburg 2013 (Alibri-Verlag), 334 S., 18 €.

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.