BERLIN. (hpd) Die Bundesländer und das Statistische Bundesamt haben sich wieder als gefolgsame Handlanger der Kirchen erwiesen und trotz aller Kritik die Fragen nach den Religionszugehörigkeit im Zensus berücksichtigt – mit den vorhergesagten und zudem grob irreführenden Ergebnissen. Die Kirchen schweigen (bisher) dazu.
Ein Kommentar von Carsten Frerk
Trotz aller wissenschaftlichen und datenschutzrechtlichen Bedenken und Kritik im Vorfeld des Zensus 2011 haben die Bundesländer und die Kirchen Druck gemacht und so sind im Zensus zwei Fragen zur Religionszugehörigkeit enthalten.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar hatte schon frühzeitig, im Mai 2011, vor dem Beginn des Zensus, die Fragen zur Religion kritisiert: „Erst auf Intervention der christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde sei dieses Thema in den Fragenkatalog aufgenommen worden. Damit gehe Deutschland über die von der EU geforderten Mindestanforderungen an die Volkszählung hinaus, sagte Schaar.“
Eine Kritik, die der Bundesdatenschutzbeauftragte am vergangenen Freitag wiederholte: „Einer meiner Kritikpunkte ist die Erhebung der Religionszugehörigkeit. Das war von der Europäischen Union nicht vorgegeben. Es gab aber starke Interessensbekundungen der Kirchen, diese Frage aufzunehmen. Der Gesetzgeber ist diesen Forderungen trotz meiner Bedenken gefolgt.“
Im Deutschlandradio hieß es dazu: „Beim Zensus 2011 gehörte die Frage nach der Religion zu den wenigen Angaben, die freiwillig waren - für Deutschland nehmen Experten daher keinen Anstieg ungewöhnlicher Religionszugehörigkeiten an. Dennoch: Die Zugehörigkeit zu den Religionen wird einer der erkenntnisreichsten Punkte der Ergebnisse der Volkszählung 2011 sein. Denn dahinter verbirgt sich die Antwort auf gleich mehrere Fragen: Ist die Bundesrepublik, deren christliche Grundlagen einige Politiker gerne betonen, noch christlich?“
Das Ergebnis des Zensus 2011 scheint das „christliche Deutschland“ zu bestätigen – aber nur anscheinend – und wie kommt das zustande?
Zwei Fragen zur Religionszugehörigkeit
Im Zensus 2011 lautete die Frage 7: „Welcher Religionsgesellschaft gehören Sie an?“ Dann werden die öffentlich-rechtlichen genannt (römisch-katholisch, evangelisch, evangelisch-freikirchlich, orthodoxe Kirchen, jüdische Gemeinden, sonstige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaft). Wer einer dieser Religionsgesellschaften angehörte, wurde zur Frage 9 weiter geleitet, wer die letzte Möglichkeit der Frage 7 beantwortet hatte: „Keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft“ dufte dann (freiwillig!) die Frage 8 beantworten: „Zu welcher der folgenden Religionen, Glaubensrichtungen oder Weltanschauungen bekennen Sie sich?“ (Christentum, Judentum, Islam (Sunnitischer, Schiitischer, Alevitischer), Buddhismus, Hinduismus, Sonstige…, Keiner…).
Es wurde also zweistufig gearbeitet. Erst wurden die in Deutschland anerkannten formalen Religionszugehörigkeiten erfasst und dann im zweiten Schritt bei den Nicht-Kirchenmitgliedern das Bekenntnis.
Das Ergebnis war wie gewünscht: Bei den Nicht-Kirchenmitgliedern ließen sich noch weitere fünf Prozent von Menschen eines christlichen Bekenntnisses finden, so dass die Zahl der Anhänger des „Christentums“ in Deutschland sich auf Zwei-Drittel der Bevölkerung erhöhte.
Da wurde inhaltlich weder geklärt, ob es sich bei den Kirchenmitgliedern überhaupt um überzeugte Christen handelt oder warum die 4,2 Millionen Menschen, die sich per Frage 8 zum Christentum „bekennen“, nicht Mitglied einer der christlichen Kirchen sind. Alles wurde in den Einheitstopf „Christentum“ geworfen: 66,4 Prozent. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass sich unter den Kirchenmitgliedern auch bemerkenswerte Anteile von Menschen befinden, die entweder nicht wissen, was sie glauben sollen oder gar nicht an einen Gott glauben. Bei der Evangelischen Kirche (EKD) sind es 37 Prozent der Mitglieder, bei der römisch-katholischen Kirche 25 Prozent der Mitglieder.
Statt 67 Prozent sind es nur 48 Prozent gläubige „Christen“
Rechnet man diese Mitglieder aus den Kirchenmitgliedern heraus, so sind es nur noch 34 Mio. gläubige Kirchenmitglieder (43 Prozent) plus die 5 Prozent Christen außerhalb der Kirchen, also insgesamt 48 Prozent „Christen“. Ein Ergebnis, dass sich auch in anderen Umfragen finden lässt: etwa die Hälfte der Menschen in Deutschland empfindet sich selbst als mehr oder minder „religiös“.
Dieses grundsätzliche methodische Defizit des Zensus 2011 hatte auch bereits im Juni 2011 der Religionssoziologe Nils Friedrich vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster bemängelt: „Die Verfasser des Zensus übersehen auch, dass die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft eine andere Qualität besitzt als ein religiöses Bekenntnis. Wer einer Glaubensgemeinschaft angehört, muss sich nicht zwangsläufig auch zu ihr bekennen.“ Und: Es sei ein Fehler, dass die offiziellen Mitglieder einer Religionsgemeinschaft nicht ebenfalls nach ihrem Bekenntnis gefragt würden. „Wenn religiöse Bekenntnisse und religiöse Zugehörigkeit nicht konsequent unterschieden und jeweils vollständig erfasst werden, können die Ergebnisse der Erhebung nicht aussagekräftig für Religion in Deutschland sein.“ (Vgl. dazu: Atheisten nach Religionszugehörigkeit, 2002.)
Unter Missachtung derartiger inhaltlich-methodischer Einwände hat das Statistische Bundesamt alle formalen Kirchenmitglieder dem „Christentum“ zugeordnet. Eine Vorgehensweise, die jeglicher wissenschaftlicher Redlichkeit entbehrt und den Forschungsstand schlicht ignoriert.
Kirchenlobbyismus
Diese Vorgehensweise folgt einem Kirchenlobbyismus, der die eigene Bedeutung überhöht und andere Auffassungen verkleinert.
Diese kirchenfreundliche Schräglage des Zensus 2011 wird auch darin deutlich, dass in der Zusammenfassung für die Presse (S. 32 ff.) nicht auch die formalen Zugehörigkeiten genannt werden, sondern nur die „Religionen“, unterschieden nach Christentum, Sonstige und Keine.
Und prompt folgt die Presse dieser Propaganda, wie der SPIEGEL, der schreibt: „66,8 Prozent der Einwohner sind Christen. 10,5 Prozent gehören keiner Religion an. Diese Zahlen sind jedoch mit besonderer Vorsicht zu interpretieren: Fast ein Fünftel der Befragten gaben auf die Frage nach der Religion keine verwertbare Antwort.“ Sehr peinlich. Für den SPIEGEL.
Aber ebenso wie für das ZDF, dass anscheinend auch nur Pressemitteilungen abschreibt: „66,8 Prozent der Einwohner sind Christen. 10,5 Prozent gehören keiner Religion an. Im Osten Deutschlands liegt der Anteil der Konfessionslosen mit rund 33 Prozent deutlich über dem im Westen (sechs Prozent). In der Befragung bekannten sich nur 1,9 Prozent zum Islam. Die Statistiker gehen jedoch davon aus, dass viele Muslime von der Möglichkeit Gebrauch machten, nicht auf die Frage zur Religionszugehörigkeit zu antworten.“ Ebenso die Neue Zürcher Zeitung.
Weitere Ungereimtheiten
Neben dieser inhaltsleeren Feststellung, wie viele Anhänger „des Christentums“ es in Deutschland gibt, kommen noch weitere Probleme, die auch andere Ergebnisse des Zensus generell als problematisch zur Diskussion stellt.
Formale Kirchenmitglieder
So liegen die Zahlen des Zensus hinsichtlich der Mitglieder der öffentlich-rechtlichen evangelischen und katholischen Kirche mit 49,1 Mio. Mitgliedern um rund 520.000 höher als die eigenen Angaben der Kirchen zu ihren Mitgliedern (im Statistischen Jahrbuch 2011) und 1,5 Mio. Mitglieder mehr als die Hochrechung für 2011 bei fowid.de.
Dazu ist nicht nur erstaunlich, dass der Zensus, der u. a. auf einer 10-prozentigen Stichprobe beruht, die Mitgliederzahlen mit 49.068.480 Personen überaus exakt benennt, was unsinnig exakt ist und korrekt auf eine Tausenderangabe wie 49.069.000 zu runden wäre. Auch das wäre bereits eine übergenaue Zahl.
Ganz erstaunlich wird es dann jedoch bei der Aufschlüsselung der Kirchenmitglieder nach Altersgruppen:
Abgesehen von der ältesten Altersgruppe (65 Jahre und älter: 74 Prozent Röm.-Kath. + Evang.) haben alle anderen Altersgruppen recht gleich bleibend zwischen 57 – 61 Prozent Kirchenmitglieder.
Das passt nun allerdings überhaupt nicht zu der in repräsentativen Bevölkerungsumfragen immer wieder festgestellten Verringerung des Anteils der Kirchenmitglieder in den jüngeren Altersgruppen, wie sie beispielsweise für die Volkszählung 1987 oder auch für die Evangelischen Kirchenmitglieder vorliegt. Hinweise auf die ansteigende Religiosität in den Altersgruppen verweisen in die gleiche Richtung. Zudem verweisen ebenso alle Zahlen des kirchlichen Lebens (Evangelische Kirche und Katholische Kirche), der sich verringernden Taufen und Konfirmationen/Firmungen etc. auf die sich verringernde Zahl des Anteils der Kirchenmitglieder in den jüngeren Altersgruppen. Insofern widersprechen die Zahlen des Zensus mehreren anderen Feststellungen.
Hier müssen weitere detaillierte Untersuchungen genauer klären, ob bei der Haushaltsstichprobe des Zensus 2011 zugunsten der Kirchenmitglieder „gewichtet“ wurde und falls ja, in welcher Hinsicht.
Konfessionslose
Der Anteil von 10,5 Prozent der Bevölkerung, die nach dem Zensus 2011 keiner Religion angehören, also konfessionslos sind, verspottet alle Ergebnisse der Sozialforschung der vergangenen Jahrzehnten. So nennt z. B. die Bundeszentrale für politische Bildungsarbeit für 2010 einen Anteil der Konfessionslosen von 33 Prozent.
Auch der hohe Anteil (17 Prozent) derjenigen, die „keine Angabe“ zu der zweiten Frage machten, verweist darauf, dass Konfessionslose mit einer rationalen Weltsicht sich nicht in diese an Religionen orientierten Antwortvorgaben wieder finden konnten.
Muslime
Ebenso zu überprüfen ist die Feststellung des Zensus 2011, dass sich (nur) 1,9 Prozent der Befragten (nach Frage 8) zum Islam bekannten. Die Erklärung des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler, dass davon auszugehen sei, dass die Frage nach der Religionszugehörigkeit am häufigsten von Juden und Muslimen nicht beantwortet worden sei, hat keinerlei Plausibilität. Es gibt ebenso Hinweise dafür, dass von den als Muslimen gezählten Migranten (5 Prozent der Bevölkerung) - weil sie aus "überwiegend muslimischen Ländern" stammen -, tatsächlich nur eine Minderheit gläubige Muslime sind.
Fazit
Hinsichtlich der Fragen von Religionszugehörigkeiten in Deutschland sollte man den Zensus 2011 schlicht vergessen.
Seine Fragestellungen dazu sind offensichtlich zu sehr von dem Bestreben getrieben, eine größere christliche Mehrheit in Deutschland zu finden, als es der Realität entspricht.
Die erläuterten methodischen Unzulänglichkeiten entsprechen nicht den sozialwissenschaftlichen Standards, die in der deutschen Religionssoziologie und empirischen Forschung üblich sind.
Insofern hat sich die Prophezeiung von Frank Patalong (vom Mai 2011) im SPIEGEL erfüllt: „Deutschland wird zum Staat der Gläubigen erhoben“.