Das Große Sommerinterview

Freidenker und Freidenken in der Schweiz

schweiz01.jpg

Andreas Kyriacou, Reta Caspar, Valentin Abgottspon
Andreas Kyriacou, Reta Caspar, Valentin Abgottspon

schweiz02.jpg

Valentin Abgottspon, Reta Caspar, Andreas Kyriacou
Valentin Abgottspon, Reta Caspar, Andreas Kyriacou

schweiz03.jpg

Carsten Frerk
Carsten Frerk

schweiz04.jpg

schweiz05.jpg

schweiz06.jpg

Reta Caspar
Reta Caspar

schweiz07.jpg

Bern

schweiz08.jpg

schweiz09.jpg

schweiz10.jpg

schweiz11.jpg

schweiz12.jpg

schweiz13.jpg

BERN. (hpd) Ein Blick über die Alpen und eine lange Unterhaltung mit dem Vorstand des Freidenkerverbandes. Über die Schweiz und seine Kantone, die Freidenker, den „Röstigraben“ und die fortschreitende Säkularisierung, auch in der Schweiz, und die Frage, welche Herausforderungen sich für die Freidenker ergeben.

Ein Gespräch mit Reta Caspar, Leiterin der Geschäftsstelle der Freidenkervereinigung, Andreas Kyriacou, Zentralpräsident (Ressort Wissenschaft), Valentin Abgottspon, Vizepräsident (Ressort Politik) und Claude Fankhauser, Aktuar (Ressort Humanismus).

 

hpd: Ich möchte zu Beginn etwas vorlesen: „Trittst im Morgenrot daher, seh' ich dich im Strahlenmeer, Dich, du Hocherhabener, Herrlicher! Wenn der Alpenfirn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet! ..." – ich muss gar nicht weiter vorlesen, als Schweizer kennt ihr das, das ist der so genannte Schweizerpsalm, die Nationalhymne. Das lernen die Kinder schon in der Schule, das lernen die Menschen in der Schweiz, dass das ihre Nationalhymne ist. Den Text gibt es auch in allen Sprachen. Ist das so eine Art religiöse Grundidentifikation, wenn ich diese bereits als Kind eingetrichtert bekomme?

Reta Caspar: Das wird nicht eingetrichtert. Die Hymne ist nur in ganz wenigen Kantonen Pflichtstoff in der Schule. Erstmals wurde das 2008 mit Blick auf die Euro 2008 im Kanton Aargau gefordert und letztes Jahr hat der Kanton Tessin das ebenfalls beschlossen. Es waren jeweils Motionen der SVP (konservative Schweizer Volkspartei), die verlangen, dass die Hymne schulstoffverpflichtend wird. Ich habe das als Kind in der Schule nicht gelernt.

Valentin Abgottspon: Die meisten Fußball-Nationalspieler können den Text, glaub' ich, auch nicht. Wir haben ja wirklich eine multikulturelle, eine Fußball-Nationalmannschaft mit Migrationshintergrund. Und es ist m. M. nach schon komisch, dieses Gebet, das wir dort haben – ein Psalm als Nationalhymne. Es sagt wenig über die tatsächliche Schweiz aus. Es läuft gerade ein Wettbewerb der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft, ein Ideenwettbewerb für eine neue Hymne. Vielleicht kommt dabei etwas raus.

Aber mit Hymnen ist das immer so eine Sache. Die Österreicher diskutieren gerade auch, ob ihre Hymne geschlechtergerecht ist oder nicht, bzw. ob sie es werden soll. Und wenn man sich das in Deutschland anschaut: Nach der Wiedervereinigung hätte man sich auch überlegen können, ob es nicht etwas Neues geben soll. Die Hymnen sind wohl immer veraltet und hinken dem Gesellschaftlichen 50 Jahre vielleicht sogar 100 Jahre hinterher.

Reta: Witzig ist ja, wie die Schweiz zu dieser Hymne kam. Lange Zeit hatte das Lied „Rufst Du mein Vaterland”, ein Kriegslied aus dem 19. Jahrhundert den Status einer inoffiziellen Nationalhymne – mit der Melodie der britischen Hymne „God save the Queen”. Wegen der immer häufigeren Begegnungen dieser Hymnen zu offiziellen internationalen Anlässen hat man 1961 provisorisch, als Verlegenheitslösung, den als patriotisches Kirchenlied beliebten „Schweizerpsalm“ eingesetzt, aber erst 1981 offiziell als Hymne der Schweiz bestimmt.

Tatsache ist: Viele religiöse Strukturen, von denen wir das Gefühl haben, die sind veraltet und die müssten wir jetzt endlich abschaffen, sind eigentlich erst etwa 50 Jahre alt. Aus den 60er Jahren stammt z. B. auch die Kirchensteuerpflicht juristischer Personen. Ich denke, damals begann der Exodus aus den Kirchen. Und so haben die Kirchen rechtzeitig ihre „Pflöcke” eingeschlagen, damit sie Verbindlichkeiten schaffen, solange sie noch Mehrheiten an der Urne finden.
Vieles, was wir heute bekämpfen, stammt also nicht etwa aus dem 19., sondern aus dem 20. Jahrhundert. Die Freidenker gab es damals auch, aber ich denke in den 60er Jahren haben sie ein bisschen gepennt. Sie wurden dann in den 70er Jahren wieder wach und haben auch verschiedene Dinge angepackt. Aber es ist ein mühsamer, langwieriger Prozess, all diese Mythen über den Nutzen der Kirchen zu entlarven und alle die Gesetze zu Gunsten der Kirchen abzuschaffen.

Wenn man mit Leuten etwa über die Kirchensteuerpflicht juristischer Personen spricht, dann finden das fast alle schräg. Nur ist mittlerweile eine Allianz der Kirchen mit den Sozialdemokraten entstanden, die Steuern tendenziell immer gut finden, deshalb wird es nochmals 20 Jahre brauchen, bis auch diese Allianz keine Mehrheit mehr haben wird.

 

Ich habe gelernt, die Schweiz hat keine Bundeshauptstadt. Es gibt nur die Konvention, dass das Bundeshaus in Bern steht? Dabei ist Bern nicht die Hauptstadt.

Valentin: Es heißt offiziell Bundesstadt. Aber faktisch hat das dieselbe Bedeutung wie eine offizielle Hauptstadt.

Die Kantone, 26 gibt’s davon, schauen darauf, dass ihre Selbständigkeit erhalten bleibt, dass keiner bevorzugt oder benachteiligt wird. Führt diese Grundmentalität zu mehr Toleranz in der Schweiz oder zu mehr Eifersüchtelei oder Eigenbrötelei – könnte man sagen, man wird schon toleranter  ...

Reta: Die Schweiz ist nicht besonders tolerant. Sie funktioniert, indem jeder sein Gärtchen sauber abgrenzt. Die Zäune sind wahrscheinlich wichtiger als das Land.

Valentin: Positiv könnte man sagen, dass es einen Finanzausgleich gibt und das ist schon Solidarität. Die reichen Kantone geben den ärmeren, den strukturschwächeren Kantonen Geld. Wenn das nicht so wäre, würde vieles anders aussehen. Es gibt schon eine positive Seite. Es gibt aber nach wie vor diesen Kantönligeist à la: Wir sind dieser Kanton und wir haben jene Eigenheiten... Es gibt schon Verbindendes, trotz der starken Individualität.
Die Befindlichkeiten, die grobe Selbstwahrnehmung und die Darstellung nach außen sind von Kanton zu Kanton halt einfach unterschiedlich. Zürich hält sich für die wirkliche Hauptstadt, Basel hält sich auch in gewissen Dingen dafür. Es ist plural.

 

Wenn ich so in die Statistik schaue, ich habe Zahlen zur Religionszugehörigkeit von 1970 – 2000, da ist die evangelisch reformierte Kirche um 13 Prozentpunkte zurückgegangen, die röm.-kath. Kirche auch um 8 Prozentpunkte, die Konfessionsfreien/keine Zugehörigkeit sind um 10 Prozentpunkte angestiegen.

Reta: 2010 ist keine gleichartige Erhebung mehr gemacht worden. Es gab eine Stichprobenerhebung, die nun alle 2 Jahre wiederholt werden soll. Nach den Daten von 2010 hat sich die Zahl der Konfessionsfreien nochmals verdoppelt, die Landeskirchen liegen noch bei 70 Prozent, der Rest sind Muslime und andere religiöse Bekenntnisse.

Andreas Kyriacou: Wobei die Zugehörigkeit zu einer Staatskirche nicht viel aussagt über religiöse Befindlichkeiten. Es gibt eine Studie von 2011, wo Religiosität, das persönliche Empfinden untersucht wurde. Danach haben etwa 2/3 ein distanziertes Verhältnis zu Religion, von denen sind aber noch viele Mitglied einer Staatskirche.

Die glauben nicht mehr an einen personalen Gott, eher vielleicht noch an eine diffus definierte höhere Macht. Aber nicht mehr an Gott, was aber das Fundament der monotheistischen Religionen ist. Dass es sich aber auch von den Strukturen her angleicht, dauert eben noch.

Die Reformierten sind im Sinkflug. Ein Teil der Leute treten zu den Freikirchen über, haben sich also in eine fundamentalistischeren Ecke umorientiert, oder sind ausgetreten, weil sie vom Glauben abgekommen sind, aber der größte Rückgang ist, weil ihnen die Mitglieder wegsterben.

Bei den Katholiken ist es etwas abgeschwächt, weil sie Migrationsgewinne vorweisen können. Jeder der sich in der Schweiz niederlässt, wird nach seiner Religion gefragt, und die Gemeindeverwaltungen schieben dann alle Protestanten den Reformierten Kirchen zu, die Katholiken eben zur röm. katholischen Kirche der Schweiz. Bei ihnen macht dies etwas mehr Sinn, weil die sich tatsächlich als Weltkirche verstehen. Wir haben sehr viel Immigration aus Ländern mit hohem Katholikenanteil : Portugal, Spanien, Italien, Osteuropa aber auch Süddeutschland.

Beispielbild