(hpd) Der berühmte Schriftsteller Leo Tolstoi („Krieg und Frieden“) gehörte trotz einer tiefen christlichen Überzeugung zu den vehementen Kritikern der Deutung des Christentums durch die russisch-orthodoxe Kirche. Der von Ulrich Klemm herausgegebene Sammelband „Kirche und Gesellschaft“ dokumentiert einige der damit angesprochenen Texte, hätte dazu aber noch nähere Erläuterungen bedurft.
Leo Tolstoi (1828-1910) ist durch seine Romane „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ auch heute noch ein weltberühmter Schriftsteller. Allein die Tatsache, dass diese Werke immer wieder aufwendig verfilmt werden, macht deren Aktualität und Faszination bis in die Gegenwart hinein deutlich. Weniger bekannt ist die politische und religiöse Seite des russischen Dichterfürsten: Einerseits bekannte Tolstoi sich zu einem christlich geprägten Anarchismus, der aber mit seiner pazifistischen Ausrichtung auf die innere Entwicklung der Individuen und nicht auf einen revolutionären Umsturz der Massen setzte. Andererseits lösten Tolstois Auffassungen über das Christentum bei der russisch-orthodoxen Kirche vehementem Unmut mit der Folge seiner Exkommunizierung aus. Worin die damit angesprochenen Positionen bestanden, will der Band „Kirche und Gesellschaft. Religionskritische Schriften, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen“ dokumentieren. Herausgegeben hat ihn der Hochschullehrer und Sozialwissenschaftler Ulrich Klemm.
In einer längeren Einführung macht er deutlich, dass Tolstoi eigentlich nicht als Autor in eine Buchreihe mit der Bezeichnung „Klassiker der Religionskritik“ passt. Denn er „nimmt hier eine Sonderstellung ein, da er einerseits tief im Christentum verankert ist und andererseits zu einem der schärfsten Kirchenkritiker im 19. Jahrhundert wurde“ (S. 7). Über den Ausgangspunkt von Tolstois Kritik heißt es: „Er ist ergriffen und beseelt von der Idee einer urchristlichen Revolution und kämpft gegen die Dogmen und Hierarchien von Kirche und Staat. Die Bergpredigt wird für ihn zum Manifest und Ausgangspunkt seiner Gesellschafts- und Kirchenkritik“ (S. 10). Und weiter heißt es: „Dieser moralische Grundsatz operationalisierte sich bei Tolstoi im konkreten sozialen und politischen Leben durch die Maxime der Gewaltfreiheit, des Vegetarismus und der Ablehnung von Kirche, Staat und Eigentum, die er als spezifische Formen von Gewalt interpretierte“ (S. 14). Die Verinnerlichung der Gebote der Bergpredigt mache die Institution des Staates überflüssig.
Klemm präsentiert nach seiner Einführung dann 17 unterschiedliche Texte von Tolstoi, die sowohl aus Auszügen größerer Werke wie „Meine Beichte“ (1882) „Mein Glaube“ (1885) oder „Kurze Darlegung des Evangeliums“ (1891) wie aus Briefen an Personen oder Zeitungen und eigenen Tagebuchaufzeichnungen bestehen. Hier kommt immer wieder die tiefe Gläubigkeit Tolstois zum Ausdruck. Die mit seiner Deutung des Christentums einhergehenden Prinzipien bilden auch die Basis für seine gesellschaftskritischen Positionen, wozu etwa auch die Verdammung des Rechts auf Privateigentum besteht. So heißt es etwa: „Persönliches Eigentum anzusammeln und es andern vorzuenthalten – bedeutet ... entgegenzuhandeln dem Willen Gottes und seinem Gebote“ (S. 87). Am Ende des Bandes dokumentiert Klemm noch die Verordnung des Allerheiligsten Synods von 1901, womit Tolstoi aufgrund seiner „antichristlichen und kirchenfeindlichen Irrlehre“ (S. 116) aus der russisch-orthodoxen Kirche ausgeschlossen wurde.
Dem schmalen Band mit den meist stark gekürzten Texten von Tolstoi kommt das Verdienst zu, die Einstellungen zu Religion und Unterschiede zur offiziellen Kirche dem Vergessen entrissen zu haben. Der begnadete Schriftsteller wird meist auf seine literarischen Qualitäten reduziert. Seine ethischen und politischen Positionen mögen noch so idealistisch und überholt erscheinen, gleichwohl verdienen sie auch heute noch öffentliche Aufmerksamkeit. Allein der Hinweis auf den Vegetarismus Tolstois mag hier als Beleg genügen.
Gleichwohl muss schon problematisiert werden, ob mit der gewählten Dokumentation auch die religionskritische Komponente des Schriftstellers deutlich wird. Meist enthalten sie Ausführungen über Tolstois positive Deutung des Christentums, nicht aber über seine Differenzen zur seinerzeitigen Kirche. Nur durch die Dokumentation der Verordnung des Allerheiligsten Synods werden sie explizit deutlich. Hier hätte es vielleicht noch gesonderter Ausführungen des Herausgebers auch zu den jeweiligen Texten bedurft.
Armin Pfahl-Traughber
Leo Tolstoi, Kirche und Gesellschaft. Religionskritische Schriften, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, Aschaffenburg 2012 (Alibri-Verlag), 137 S., 13 €.
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich