Ist Religion unantastbar?

Anmerkungen zum Umgang mit Religion

Es folgt der neben dem Artikel von Robert Misik wohl beste Beitrag dieses Heftes, den Frieder-Otto Wolf in einer sehr eindeutigen und klaren Fragestellung formuliert hat: „Ist Religion unantastbar." Wolf wird hier „nur" als Präsident der Humanistischen Akademie Deutschland vorgestellt. Sein Amt als Präsident der Weltanschauungsgemeinschaft HVD - Humanistischer Verband Deutschlands (die lt. WRV und GG den Religionsgemeinschaften gleichgestellt ist) wird jedoch unterschlagen.

Wolfs Beitrag ist von der ersten bis letzten Zeile lesenswert und sollte in den Medien aller Weltanschauungsgemeinschaften ungekürzt publiziert werden.

Im Gegensatz zu den religiös gebundenen Autoren dieses Heftes nennt er die Dinge und Verhältnisse hierzulande beim Namen, wirft konkrete Fragen auf und unterbreitet Vorschläge. So z.B. das System des „Staatskirchenrechts" abzuschaffen und stattdessen ein System des „Weltanschauungsrechts" zu schaffen.

Zur Tabufrage, ob Religion unantastbar sei, soll die von Wolf gegebene Antwort an dieser Stelle etwas ausführlicher zitiert werden:

„...bedeutet das, dass Religion oder auch Weltanschauung nicht als solche unantastbar sein kann. Unantastbar ist die Menschenwürde. Artikel 2 des Grundgesetzes führt nicht ohne guten Grund direkt im Anschluß an Artikel 1 das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, in der das Selbstbestimmungsrecht des Individuums enthalten ist, sowie die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person auf. Auch „Religionen" (oder auch „Weltanschauungen"), das heißt im Klartext die sie vertretenden Individuen oder Organisationen, müssen geradezu spätestens dann angetastet werden, wenn sie der Menschenwürde des Individuums zuwiderhandeln.

Das geschieht überall dort, wo Vertreter einer Religion Gewalt anwenden oder Menschen durch sozialen Druck die Möglichkeit vorenthalten versuchen, sich in ihrem Leben und Denken ‚anders‘ und selbstbestimmt zu orientieren. (...)

Hierher gehört auch der in vielen Teilen Deutschlands noch alternativlose Religionsunterricht oder etwa Bestimmungen des kirchlichen Arbeitsrechts, durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in persönlicher Moral und religiösen Entscheidungen auch dort, wo sie nicht als weltanschauliche Repräsentanten tätig sind, an die Weltanschauung ihrer Träger gebunden werden. (...)

Religionsfreiheit bleibt durch die Menschenrechte begrenzt, und Religionskritik muß bei aller Schärfe den inneren Kern der religiösen Bindung als solchen akzeptieren. Das ist auf dem Welt von Religionen und Weltanschauungen offenbar das Einfache, das so schwer zu machen ist." (S. 56)

„Die etwas andere Gretchenfrage" stellt Stephan J. Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, und liefert mit seinem Beitrag ein drittes Lehrbeispiel für theologische Rabulistik ab. Er arbeitet sich an der Beschneidungsdebatte ab und beklagt die „ungeheuerliche These, die jüdische oder moslemische Beschneidung [von Knaben; SRK] sei der Verstümmelung weiblicher Genitalien bei der sogenannten Mädchenbeschneidung gleichzusetzen." (S. 57)

Desweiteren behauptet er, daß Religionen „grundlegende Bestimmungen zu Moral, Ethik und menschlicher Koexistenz" enthalten. (...) die Zehn Gebote schaffen eine moralische Grundlage, die bis heute für die ganze Menschheit Geltung hat. (...) Religion also als Bollwerk gegen Tyrannei und Überheblichkeit (...) das gehört zu den Werten, die wir dem Glauben entnehmen können." (S. 57/58) Nicht zuletzt offenbart er, daß das Alte Testament den Rechtsstaat begründet habe...

Was diktieren die bewußten Zehn Gebote? Nun, Intoleranz, Sklaverei, die Frau als Eigentum des Mannes so wie sie Sklaven und das Vieh auch. Und wie nannten sich rings um das Mittelmeer die feudalen Herrscher? „Wir von Gottes Gnaden!" Und was stand auf den Koppelschlössern der deutschen Wehrmacht? Auf wen beriefen sich Pinochet u.a. Gewaltherrscher?

Nun, auch darauf gibt es von Kramer eine rabulistische Antwort aus fünf Worten: „Vor Mißbrauch ist nichts geschützt." (S. 58)

Um so vehementer wettert er gegen den Laizismus und die Laizisten...

Um „Religionskritik und -offenheit in den Medien" geht es im Beitrag des Journalisten Christoph Strack. Sollte es dem Titel nach gehen. Das tut es aber nicht! Die Wirklichkeit wird ausgeblendet, denn, so der Autor ganz ehrlich, „die medialen Meinungsmacher betrachten das Christentum unabhängig von der eigenen Religiosität als legitime Kraft zur Sicherung der öffentlichen Moral. Die Kirchen seien ‚wesentliche zivilgesellschaftliche [soso; SRK] Kraft in einer Situation des Umbruchs‘ und könnten Orientierung geben, in dem sie helfen, die eigene religiös-kulturelle Identität zu stärken." (S. 60)

Man kann es aber auch nicht verklausuliert sagen: Auch und nicht zuletzt über die Medien wirkt der Klerus dafür, daß die da unten nicht gegen die da oben aufbegehren!

Schwach ist leider auch der letzte Beitrag „Von Religionskritik zur Diffamierung" von Nilden Vardar. Sie hätte ihn besser mit (in Anführungszeichen gesetzt) „Islamkritik" überschreiben sollen. Das hätte ihr Anliegen besser getroffen.

Zuzustimmen ist der Autorin ohne Wenn und Aber hier: „Kritik, die in dieser Frage den Blick ausschließlich auf den Islam richtet und patriarchale Strukturen in anderen Religionen oder nicht-religiösen Systemen außen vor läßt, setzt sich zumindest dem Verdacht aus, dass es sich dabei nicht um das Problem (die Stellung der Frau in der Gesellschaft) an sich geht, sondern um den Ausschluß einer bestimmten religiösen Gruppe." (S. 62)

Trotz aller Einwände gegen die interessenbedingten Auslassungen offizieller Religionsvertreter ist dieses Beilagenheft insgesamt doch eine lesenswerte Schrift. Hervorzuheben ist, daß eben nicht nur Vertreter der beiden sogenannten Amtskirchen (und politisch korrekt Vertreter von Judentum und Islam) zu Wort kommen. Lobenswert ist es, daß sich auch religionsfreie Menschen und vor allem der Repräsentant einer großen Weltanschauungsgemeinschaft äußern durften.

Siegfried R. Krebs

 

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament". Ausgabe 24/2013 vom 10. Juni 2013. 62 Seiten. (hier als pdf zum Download)