Religiosität, Religion, Sinnsuche
Der Philosoph Geert Hendrich hat seinen Beitrag überschrieben mit „Religiosität und Sinnsuche in modernen Gesellschaften". Er geht von solchen Zahlen des Religionsmonitors 2008 aus, „die in der Öffentlichkeit den Eindruck befördert haben, unsere modernen, säkularen Gesellschaften erlebten eine Renaissance des Religiösen". (S. 20)
Hendrich greift die These von der „Leit- und ethischen Funktion der Religion" auf und kommt, bezugnehmend auf soziologische Begriffe (Religionsersatz und Ersatzreligion) zu seiner Schlußfolgerung: „Von dieser Erkenntnis her lassen sich die Zahlen des Religionsmonitors 2008 anders interpretieren denn als ‚Wiederkehr der Religion‘: Heute bedeutet ‚religiös sein‘ nicht mehr dasselbe wie ‚Religion haben‘ (...) [und] dass hinter der medial beförderten Rede von der ‚Sinnkrise‘ der modernen Gesellschaft TATSÄCHLICHE Fragen der Individuen stehen (...) unter den Lebensbedingungen unserer Gesellschaft." (S. 22)
Man müsse sich die Bedingungen einer für den Einzelnen immer unübersichtlicher immer bedrohlicher scheinenden Welt hineindenken, um die neuen Formen von Religiosität verstehen zu können. Aber - so schreibt er, „schon der Theologe Paul Tillich wies darauf hin, dass Religion als Sinnressource nichts zur Verfügung stellt, was nicht auch Ethik, Philosophie und sogar die Kunst zu bieten hätten." (S. 22)
Das erkläre auch die immer größere Diskrepanz und Distanz zwischen sich als religiös bezeichnenden Menschen und den etablierten christlichen Großkirchen.
Der Anspruch letzterer sowie die Auslassungen klerusfreundlicher Politiker und Medien beruht eben auch auf bewußt unscharf gehaltenen Begriffen, wie Glauben, Religiosität, Religion, Christentum.
Laut Hendrich sind gerade deshalb die „zahlreichen neuen Formen von ‚Religiosität‘ als Religionsersatz das schwächste Indiz für [die unermüdlich behauptete; SRK] ‚Wiederkehr der Religionen‘." (S. 24)
Ausführlich geht der Autor auf den religiösen Fundamentalismus ein und bezieht diesen keinesfalls nur auf den Fundamentalismus im Islam.
Er widerspricht auch der These, daß „die Säkularisierung die Hauptverantwortung für moralischen und sozialen Verfall habe - und nicht etwa die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft." Und kommt damit zu der überaus wichtigen und richtigen Frage, „ob denn in der modernen Kultur tatsächlich ‚nur die Religionen die moralische Substanz des Einzelnen‘ und die ‚Homogenität der Gesellschaft‘ garantieren können." (S. 27) Seine Antwort liegt bereits in dieser Frage!
Gegen Hendriks Ausführungen laufen gleich zwei Theologen Sturm; Rolf Schieder und Hendrik Meyer-Magister mit ihrem Artikel „Neue Rollen der Religion in modernen Gesellschaften". Auch dieser Beitrag ist ein Lehrbeispiel theologischer Rabulistik. Geschickt werden Daten und Fakten mit priesterlichem Wunschdenken vermischt und verdreht.
Eine Kostprobe: „Bei näherer Betrachtung der Einstellungen der 700 Millionen religiös nicht gebundenen in China [chinesische Statistiken sprechen von etwa 1,1 Milliarden religionsfreier Menschen; SRK] kommt man ebenfalls zum Nachdenken: So gehen mit größter Selbstverständlichkeit 44 Prozent dieser Chinesen am nationalen Grabpflegetag an das Grab ihrer Ahnen..." (S. 29) Und werden so per Federstrich von deutschen Theologen zu Religiösen erklärt. Im Übrigen, auch im kapitalistischen Südkorea betrachten sich rund 60 Prozent der Menschen als religionsfrei...
Eine weitere Kostprobe: „Von Kirchenzugehörigkeit kann nicht auf Glaubensintensität geschlossen werden. (...) In den vergangenen 20 Jahren sind in Deutschland mehr Kirchenglocken gegossen worden als in den 100 Jahren zuvor. Diese Glocken fanden fast ausnahmslos ihren Bestimmungsort in den Glockenstühlen von Dorfkirchen in den östlichen Bundesländern. Das muss überraschen, denn nach wie vor gehören 75 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung keiner Kirche an." (S. 30) - Nun. Klerus und klerusfreundliche Politik setzen eben alles daran, Missionierungswillen zu bekunden und zu fördern, auch wenn die Finanzierung unter dem Deckmantel der Denkmalspflege erfolgt und nicht etwa aus dem Milliardenvermögen dieser Kirchen...
Diesem Beitrag schließt sich ein Artikel der Theologin Birgit Heller an: „Zwischen Diskriminierung und Geschlechtergleichheit - Frauen und Religionen". Zu Recht schreibt sie: „Ohne die Schar der weiblichen Gläubigen und ihre Dienste wären die meisten Religionen nicht überlebensfähig." (S. 35) Aber dann kommt es dicke mit der Behauptung, daß bereits in der Bibel die Gleichheit von Mann und Frau, festgeschrieben sei. Es folgt ein Plädoyer für „feministische Theologien"...
Kirche, Politik, „Staatskirchenrecht"
Im Gegensatz dazu findet man im Essay der Theologin Sabine Dehmel sehr kritische Feststellungen zur Verfaßtheit der katholischen Kirche: „Individuum und Kirche - Ohne Zutrauen und Vertrauen in die Menschen keine Anziehungskraft!" Was sie allerdings völlig außer Betracht läßt, die katholische Kirche ist eine absolute Theokratie, die ihren totalen Machtanspruch eben nicht demokratisch von den Menschen herleitet, sondern von einem imaginären transzendenten Wesen, und einem ebenso imaginären „Gottessohn" mit dem Bischof von Rom als „Stellvertreter Christi auf Erden"...
Die Autorin spricht z.B. die „Pastorale Raumplanung 2025 im Bistum Augsburg" an, die ohne jegliche Beteiligung des „Gottesvolkes" vom Bischof selbstherrlich festgelegt worden sei. Dieser habe auch festgelegt, „dass die Pfarrgemeinderäte ab sofort kein beschließendes Stimmrecht mehr haben." Denn, so der Bischof unumwunden in einem Interview: „Kirche ist keine Demokratie. Das ist leider ein Mißverständnis." (S. 41)
Aber heißt es nicht im bundesdeutschen Mainstream immer wieder, daß die Kirchen, daß das Christentum die Urheber von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat seien? Nun, wer die Macht hat, kann unbesorgt auch sehr offen reden.
Anja Hennig von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder schreibt „Zum Verhältnis von Religion und Politik in Europa". Ausgehend von der Luther'schen Reformation und den Augsburger Religionsfrieden (seither hatte sich die konfessionelle Zugehörigkeit eines Gebietes nach der des jeweiligen Landesherren zu richten) schlägt sie über die Säkularisierungen im Zuge der Französischen Revolution den Bogen in die Gegenwart. Und sie gibt einen komprimierten und aussagekräftigen Überblick über die „Genese christlicher Parteien" in verschiedenen Ländern unseres Kontinentes.
Widerspruch rufen aber solche Sätze hervor wie: „Die Kirchen werden weiterhin gebraucht, denn nicht zuletzt spielen sie in Deutschland im sozialen und karitativen Bereich eine tragende Rolle. ‚Gebraucht werden die Kirchen aber auch von vielen Nichtreligiösen wie etwa für Bestattungen..." (S. 47)
Gegenfragen: Wer finanziert dieses Engagement eigentlich? Warum sind die kirchlichen Einrichtungen tragend? Gibt es nicht auch religionsfreie Träger? Und leisten säkulare Träger nicht Gleiches - und ohne auf Sonderrollen zu pochen? Gibt es denn gar keine Angebote für weltliche Bestattungsredner?
Insofern ist dieser Beitrag mehr als unredlich!
Kirchenpropaganda kommt in Deutschland nicht ohne die sogenannten Staatskirchenrechtler aus, deren Hauptaufgabe darin besteht, die Ansprüche und Privilegien des Klerus juristisch abzusichern. Was mit Hilfe z.B. insbesondere der bundesdeutschen Gerichte auf wundervolle Weise auch immer wieder gelingt. Man denke nur daran, wie aus einem organisationsinternen Selbstverwaltungsrecht (siehe Weimarer Verfassung und Grundgesetz) ein totales Selbstbestimmungsrecht vor allem Betriebe und Einrichtungen in kirchlichem Besitz gemacht wurde.
Aber es gibt inzwischen Gegenwehr, erste kleine Erfolge gegen diesen totalen Anspruch durch jüngste, wenngleich halbherzige, Entscheidungen von Arbeitsgerichten. Wohl daher hat der Jura-Professor Stefan Mückl seinen Beitrag mit „Aktuelle Herausforderungen für das Staatskirchenrecht" überschrieben.
Er singt hierin ein Hohelied auf die bestehenden Zustände. Und vergißt die verfassungswidrigen Realitäten zu erwähnen, siehe Kirchensteuereinzug. Hier wird seit der Machtübertragung an die deutschen Faschisten - im Gefolge des ebenfalls bis heute gültigen Reichskonkordats - entgegen den verfassungsmäßigen Festlegungen verfahren.
Mückl geht kurz auch auf Entwicklungen in „Europa" ein und stellt fest, daß in der EU „die Phänomene ‚Kirche‘ und ‚Religion‘ primär in den Kategorien des Wirtschaftslebens wahrgenommen werden." (S. 51)
Und das zu Recht! Denn zumindest die beiden Großkirchen sind ja seit der Antike nichts anderes Wirtschaftsunternehmen, vergleichbar mit anderen Großkonzernen!
Auch eine Fußnote auf S. 51 ist ganz interessant; sie soll unkommentiert wiedergegeben werden: „Hinzuweisen ist aber auch auf Erkenntnisse der empirischen Sozialwissenschaften, denen zufolge ‚das Gros der Muslime seinen Glauben ähnlich (lax) praktiziert wie Christen und Juden."
Vor allem aber schreibt Mückl gegen die verfassungsgemäß gebotenen Forderungen zur Realisierung der Trennung von Staat und Kirche(n)/Religionen an. Stets mit den beiden Argumentationsmustern: „Ja, aber..." und „So wie es sich herausgebildet hat, so hat es sich dort bewährt..." Mit der schließlichen Behauptung, daß Nutznießer des Staatskirchenrechtes neben der Kirche doch auch der Staat sei. Da sei dem Rezensenten ausnahmsweise ein sehr laxer Kommentar gestattet: „Selten so gelacht!"