Der Zorn der Zeugen Jehovas

Kein Zeichen der Angst vor Angeklagtem

Auf den Mann, der ihn angeblich misshandelt hat, scheint sich diese Angst nicht zu erstrecken. K. zeigt keine Zeichen von Beunruhigung oder gar Traumatisierung, als er auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt, kaum einen Meter vom Angeklagten entfernt. Er gestikuliert lebhaft, springt immer wieder auf, als er vorzeigt, was ihm nach seiner Aussage am 9. März passiert ist. Immer wieder wirkt es beinahe so, als tänzle er. Während einer Detailfrage beugen sich der Angeklagte und er sogar gemeinsam über eine Skizze.

„Der Herr Lorré (!) hat sich vor uns hingestellt und aufgeplustert“, schildert er seine Erinnerungen an den fraglichen Tag. Er hüpft ab, streckt die Arme von der Hüfte weg, duckt sich leicht nach vorne. „So hat er gemacht. Er hat uns beide jeweils mit einer Hand gepackt und uns zuerst gegen den Lift gedrängt, so vier Meter in den Gang hinein und dann hat er uns gegen die Wand gezogen. Den anderen hat er fast gegen den Feuerlöscher geschleudert.“

„Wäre ich noch römisch-katholisch, wäre ich nicht ruhig geblieben“

K. präsentiert sich vor Gericht als äußerst friedfertig. „Ich war früher römisch-katholisch. Wäre das damals passiert, wäre ich nicht so ruhig geblieben.“ Allerdings habe er in der Situation zum Regenschirm gegriffen und den Angeklagten weggedrängt, um den zweiten Zeugen Jehovas zu befreien. „Daraufhin hat mich Lorré angegriffen und gegen die Stiege gedrängt. Als ich davon gelaufen bin, hat er mich zum Stolpern gebracht.“

Ärztliches Attest? Gibt es nicht

Er habe sich Hüfte und Arm verletzt, schildert K. Richterin Leitner. Ob er das beweisen könne, fragt sie? „Ich habe 20 Einheiten Lymphdrainage gebraucht“, sagt er. Ohne Überweisung oder gar ärztliches Attest. „Ich geh prinzipiell zu keinem Arzt und lass mir prinzipiell keine Spritzen geben, wenn es nicht unbedingt sein muss. Das ist wegen des Körpers.“

Fotobeweise zweifelhafter Qualität

Das einzige, womit er die vorgebliche Verletzung zu belegen versucht, ist ein Foto ausnehmend schlechter Qualität. Seine Frau habe es mit dem Handy aufgenommen, sagt er. Das Foto, das dem hpd vorliegt, zeigt nur den Kopf und den Hals Ks. Von der angeblich auch verletzten Hüfte ist nichts zu sehen.

Weder Staatsanwaltschaft noch Verteidigung verfügen über die Originalversion des Bildes. Beide haben es in Form einer Datei, die in die Anzeige hineinkopiert wurde, die ein Wiener Anwalt im Namen der mutmaßlichen Opfer aus der Steiermark verfasst hat. Neun Tage nach dem angeblichen Vorfall.

„Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?“

Die Zeugin Jehovas, die ihr Auto umgeparkt hat, ist mittlerweile wieder auf ihrem Sitzplatz.

Warum K. nicht sofort die Polizei angerufen habe, will die Richterin wissen. „Ich habe ihm schon angedroht, dass ich die Polizei rufe, wenn er uns nicht sofort loslässt.“

Richterin: „Warum haben Sie das dann nicht gemacht?“

K.: „Ich musste dringend auf eine Dienstreise nach Manila und bin nach dem Vorfall sofort nachhause und von dort zum Flughafen nach Wien.“

Zeitangaben gehen sich nicht aus

Eine Dienstreise, die weitere Fragen aufwirft. K. präsentiert als weiteren Beleg für Schmerzen durch den Vorfall eine Rechnung seiner Physiotherapeutin. Datiert mit 15.3. Der Verteidiger bohrt nach: „Sie haben also die Therapie schon am 15.3. begonnen?“

K., zögert kurz: „Ja, das wird schon so sein.“

Richterin, zum Verteidiger: „Ah, jetzt sehe ich, warum Sie das so interessiert.“

Verteidiger: „Wie lange waren Sie denn auf Dienstreise?“

K.: „Eine Woche. In Dubai bin ich immer eine Woche.“

Was heißt, dass er die Therapie einen Tag angetreten hat, bevor er nach seiner Aussage im Prozess von seiner Dienstreise zurückkehrte. Ein Blick in die Anzeige macht die Sache nicht klarer: „Ich, Lukas K., musste mich am Sonntag, 10.3.2013 auf eine Geschäftsreise begeben und befinde mich noch bis 25.3.2013 im Ausland“, heißt es dort wörtlich. Was ebenfalls die Frage aufwirft, wie er die Anzeige schon am 18.3. unterschreiben konnte.

„Wie soll denn das gehen?“

Für Verteidiger Matthias Strampfer nicht die einzige Ungereimtheit: „Sie sagen also, dass der Herr Lorre, der kleiner ist als Sie, Sie UND einen zweiten vier Meter weit in einen Gang schieben und Sie dann noch um 180 Grad herumreißen kann?“

K.: „Ja.“

Verteidiger: „Wie soll denn das gehen, bitte?“

Dass er den Angeklagten mit dem Regenschirm geschlagen habe, schließt er aus. Ebenso, dass er nach dem Vorfall zur Wohnhausanlage zurückgegangen sei, wie der Angeklagte es schildert.

Er sei froh, dass die Sache ihm passiert sei, sagt K. „und nicht einem alten Mann auf einem Hausbesuch.“ Eine Aussage, die er nahezu wortgleich drei Mal während seiner Befragung wiederholt.

Jetzt nur mehr „hin- und hergeschoben“

Der zweite mutmaßlich Geschädigte nimmt Platz. Michael M., 1,72 groß und nach eigenen Angaben 70 Kilogramm schwer, wirkt gefasst. Scheu vor seinem mutmaßlichen Angreifer zeigt auch er nicht.

Er ist sich nicht ganz einig mit K., wie der Vorfall am 9. März abgelaufen ist. „Er hat uns hin- und hergeschoben, gezogen und gerissen.“ Der Angeklagte schüttelt den Kopf. „Dann hat er uns gegen die Wand gedrückt. Herr K. hat sich losgerissen und mir geholfen, dass ich loskomme“. Davon, dass Lorre die beiden vier Meter weit zurückgeschubst habe, ist hier keine Rede.

Auch M. hat kein ärztliches Attest

M. kommt aus Fürstenfeld und spricht mit starkem oststeirischen Akzent. Hochdeutsch macht ihm hörbare Mühe.

Seine Anwältin, die den Großteil des Prozesses über schweigsam ist, tut sich mit Hochdeutsch einfacher. Ihr Kärntner Akzent ist unüberhörbar.

Sie kündigt an, die beiden mutmaßlich Geschädigten würden sich als Privatbeteiligte dem Prozess anschließen und macht Schmerzensgeld, Therapiekosten sowie Schadensersatz in der Höhe von 1.900 Euro geltend.

Ein ärztliches Attest über die Hämatome am Arm, die er erlitten haben will, kann auch er nicht vorlegen. „Zuerst hab ich mir gedacht, wegen der paar blauen Flecken geh ich nicht zur Polizei“. Gleichwohl hat auch er ein Foto der Anzeige beigelegt, das die blauen Flecken dokumentieren soll. Auch hier verfügen weder Staatsanwaltschaft noch Verteidigung über die Originaldatei.

Werbung unerwünscht. Egal. Oder auch nicht.

Ganz einig scheinen M. und K. sich auch nicht zu sein, was die Anläutpolitik der Zeugen Jehovas betrifft. Laut Verteidigung hängt auf der Tür des Angeklagten das Schild „Werbung unerwünscht“.

Auf die Frage, ob man bei Menschen anläute, die solche Schilder haben, sagt K.: „Nein, das machen wir nicht. Damit sagen die Leute ja, dass sie keine Werbung haben wollen.“ M. meint: „Natürlich läuten wir an, weil das heißt ja nur, dass Werbung unerwünscht ist.“

„Wurden nicht geschlagen oder getreten“

In einem nicht unwesentlichen Punkt zeigen sich beide einig: Der Angeklagte habe sie nicht geschlagen oder getreten, wie es in der Anzeige heißt, die sie beide unterschrieben haben. Allein, die Anzeige wurde gar nicht von den beiden in Auftrag gegeben. Es war die Zentrale der Zeugen Jehovas in Wien, die Anwalt Reinhard Kohlhofer beauftragte, das Schriftstück aufzusetzen.

Die Anzeige legt auch die Antwort auf eine Frage nahe, die der Angeklagte selbst nicht beantworten konnte. „Warum glauben Sie, behaupten die (die Zeugen Jehovas, Anm.), dass Sie sie verletzt haben“, fragt ihn Richterin Leitner. „Das frage ich mich auch“ sagt der Angeklagte.

Ideologischer Hintergrund?

Zitat aus der Anzeige: „Der Angezeigte weist sich durch seine Veröffentlichungen im Internet als grundsätzlicher Kirchenkritiker aus. Die Verwirklichung der geschilderten Straftatbestände vor diesem ideologischen Hintergrund ist für uns inakzeptabel.“ Das klingt, als sei der Aktivismus des Angeklagten hauptverantwortlich dafür, dass er heute vor Gericht steht.

Prozess wird vertagt

Zu einem Urteil kommt es heute nicht. Verteidiger Strampfer beantragt, dass ein Sachverständiger klären soll, was es mit den Fotos auf sich hat, die angeblich die Verletzungen belegen: „Ich halte die Überprüfbarkeit für wichtig, weil es sonst überhaupt nix Objektivierbares gibt.“ Wozu auch geklärt werden wird müssen, ob die Originaldateien überhaupt noch vorhanden sind. Richterin Leitner gibt dem Antrag statt. Der Prozess wird vertagt.

Lorre wird sich ein zweites Mal vor dem Strafgericht wiederfinden. Er hofft auf einen Freispruch. „Ich hab die beiden jedenfalls nicht verletzt“, sagt er. „Die Schilderungen sind Schwachsinn und widersprechen sich auch noch.“

Christoph Baumgarten