GRAZ. (hpd) Philippe Lorre, Sprecher des Zentralrats der Konfessionsfreien, hat sich am Freitag wegen des Vorwurfs der Körperverletzung vor dem Bezirksgericht Ost in Graz verantworten müssen. Zwei Zeugen Jehovas werfen ihm vor, sie bei einem ungebetenen Besuch gewalttätig aus dem Haus geworfen und verletzt zu haben. Beweise blieben sie schuldig. Unser Österreich-Korrespondent Christoph Baumgarten hat den Prozess beobachtet.
Der Angeklagte nimmt einen Schluck Beruhigungsmittel. „Jetzt bin ich etwas nervös“, sagt er. In wenigen Minuten wird er das erste Mal in seinem Leben vor einem Strafgericht stehen. Er soll im März zwei Zeugen Jehovas gewalttätig aus dem Mehrparteienhaus in Graz geworfen haben, in dem er lebt. In der Anzeige heißt es, Lorre „schlug und trat brutal auf uns ein, würgte uns am Hals“.
Die mutmaßlich Angegriffenen haben einen kleinen Fanclub mitgebracht. Drei weitere Zeugen Jehovas nehmen im Zuschauerteil des Gerichtssaals A Platz. Einer wird immer wieder Notizen machen. Sonst scheint niemand Notiz zu nehmen von dem Prozess, der vor wenigen Monaten wesentlich größer geplant gewesen war.
Ursprünglich war Staatsanwalt Johannes Winklhofer als Ankläger vorgesehen gewesen. Der Mann, der den österreichischen Nazi-Terroristen Franz Fuchs vor Gericht stellte. Der Hannes Kartnig einen Schuldspruch bescherte, dem ehemaligen Präsidenten des Fußballvereins Sturm Graz. Kurz: „der schärfste Hund von Graz“, wie es in Juristenkreisen heißt. Der Fall wanderte von Winklhofer zu einer Bezirksanwältin, nachdem die Beweise gesichtet worden waren.
Sprachliche Welten treffen aufeinander
Von Beginn an prallen sprachliche Welten aufeinander. Richterin Magdalena Leitner fragt den Angeklagten auf Hochdeutsch mit leichtem steirischen Einschlag nach seinen Personalien. Den Nachnamen spricht sie Lorré aus. Lorre korrigiert sie höflich, ebenfalls auf Hochdeutsch mit kaum merkbaren französischem Akzent. Gelegentlich wird er auch für einen Deutschen gehalten. Auch der schulische Werdegang, der hier genau protokolliert werden muss, macht Probleme. Die Ausdrücke Collège und Lycée sorgen für anfängliche Verwirrung.
„Nicht schuldig“
„Nicht schuldig“ plädiert der Angeklagte. Kurz zuvor hat die Richterin ihm die Möglichkeit auf einen außergerichtlichen Tatausgleich eingeräumt, vorausgesetzt er übernehme Verantwortung für den Vorfall vom 9. März. Das tut er ausdrücklich nicht.
15 Jahre lang hätten Zeugen Jehovas immer wieder ungebeten bei ihm angeläutet, sagt er. Alle eineinhalb Jahre, mindestens. „Ich hab ihnen jedes Mal gesagt, dass ich in Ruhe gelassen werden will, dass sie mich nicht mehr besuchen sollen. Jedes Mal haben sie mir gesagt, sie werden das weiterleiten und das wird vermerkt.“ Passiert dürfte das höchstens bedingt sein.
„Auf den Gang hinausgedrängt“
Am 9. März war es etwas anders als sonst. Der Angeklagte öffnete die Wohnungstür, als es läutete. „Ich habe meinen Sohn erwartet und deshalb nicht durch den Spion geschaut“. Vor der Tür standen zwei Männer. Einer 1m 72 groß, der andere 1m 82, auf den ersten Blick etwas größer wirkend. Dass das Zeugen Jehovas sein könnten, kam ihm zuerst gar nicht in den Sinn. „Von denen sind sonst immer nur Frauen gekommen.“ Er habe sich eingeschüchtert gefühlt, schildert der Übersetzer. Zumal er zuerst nicht wusste, wer die beiden waren.
„Dann hat einer den Fuß über die Schwelle gestellt und mir etwas entgegengestreckt. Das war zu viel für mich, weil sich da jemand das Recht genommen hat, in meine Wohnung einzudringen, ohne meine Einladung“.
Erst jetzt hätten die beiden erklärt, was sie wollten. „Der kleinere der beiden hat dann zu einer Erklärung angesetzt, wer sie sind und was sie wollen.“ Dass er in dem Moment zornig wurde, bestreitet Lorre nicht. „Ich habe den einen an der linken Schulter gepackt, den anderen an der rechten und habe sie auf den Gang hinausgedrängt. Dort habe ich ihnen erklärt, dass ich mehrere Male gesagt habe, ich wolle diese Besuche nicht.“ Eine Diskussion entspann sich.
„Wurde mit Regenschirm geschlagen“
Richterin Leitner fragt mehrmals freundlich nach. Sie erweckt den Eindruck, das Verfahren möglichst unparteiisch führen zu wollen. „Haben Sie die beiden gehalten dabei?“
Angeklagter: „Ja, ich musste dabei aber ständig an meine Entzündung im rechten Ellbogen denken. Es tat auch weh, aber für mich das war eine Notwehrsituation.“
Richterin: „Was ist dann passiert? Wie Sie das schildern, ist das ja kein Grund für eine kaputte Kleidung“ (ebenfalls Gegenstand der Anklage, Anm.)
Angeklagter: „Das hat jedenfalls nicht sehr lange gedauert. Dann hat einer der beiden angefangen, auf mich mit einem Regenschirm einzuschlagen.“
Richterin: „War der Regenschirm offen oder geschlossen?“
Angeklagter: „Geschlossen“.
Richterin: „Was haben sie dann gemacht?“
Angeklagter: „Ich habe sofort losgelassen, weil mein Ellbogen sehr weh tat. Außerdem habe ich habe zwei Schläge auf den Kopf bekommen und hatte Angst um meine Augen.“
„Zeugen Jehovas kommen zurück“
Die Zeugen Jehovas hätten daraufhin das Haus verlassen. Nach einer Viertelstunde seien sie wiedergekommen, in Begleitung eines Dritten. Das habe er durchs Fenster beobachtet. „Offenbar hat ihnen niemand aufgemacht. Zu mir sind sie jedenfalls nicht mehr gekommen.“
Lorre illustriert seine Angaben mit einer Skizze von Wohnung und Hausflur. Die Richterin will wissen, ob er den Zeugen Jehovas nachgelaufen sei. „Nein.“
Zuschauer sorgt für Unterbrechung
Der Zeuge Jehovas, der einige Notizen gemacht hat, hat einige Minuten davor den Saal verlassen. „Der Zuhörer ist schon sehr lange weg“, sagt Lorres Verteidiger Matthias Strampfer. „Kann man bitte nachsehen, ob der sich nicht mit den Zeugen bespricht, die draußen warten? Er hat mitprotokolliert.“ Als die Richterin nachsieht, ist er weg. „Er muss um elf Uhr bei Magna draußen sein (eine Fabrik, Anm.)“, sagt eine Zuhörerin, ebenfalls Zeugin Jehovas. „Ich muss dann auch länger weg, ich muss das Auto umstellen“, sagt sie. Die Grazer Innenstadt ist Kurzparkzone.
Minutenlang dreht es sich darum, wie die Zeugen Jehovas in die Wohnhausanlage gelangten. Irgendwer müsse sie ins Haus gelassen haben. „Das ist der Nachteil eines Mehrparteienhauses“, signalisiert Richterin Leitner so etwas wie Verständnis dafür, dass sich der Angeklagte durch den ungebetenen Besuch belästigt gefühlt habe. Die Bezirksanwältin pflichtet bei. Es wird ihre einzige Wortmeldung während des Prozesses sein. Die Anwältin, die die mutmaßlichen Geschädigten als Nebenkläger vertritt, schweigt. Weder sie noch die Bezirksanwältin werden während des Prozesses eine einzige wesentliche Frage stellen.
„Ich komme immer in friedlicher Absicht“
Auftritt der größere der angeblichen Geschädigten. Lukas K. ist 1,82 groß. Er wirkt etwas größer und sportlich. Nach eigenen Angaben hat er 83 Kilogramm. Das macht ihn einen halben Kopf größer und mindestens zehn Kilo schwerer als den Angeklagten, der 1m 76 groß und sehr schlank ist. „Grüß Gott“ sagt er laut, als er den Saal betritt.
„Gehen Sie öfter in Häuser und verteilen Prospekte?“, will Leitner von ihm wissen.
Zeuge: „Ich komme immer in friedlicher Absicht.“
K. spricht breiten Oberkärntner Dialekt. Dass der Makler seit Jahren in der Umgebung von Graz lebt, hat keine Spuren hinterlassen. Der Vorfall vom 9. März schon, behauptet er: „Jedes Mal, wenn ich irgendwo anläute, hab ich Angst, was könnte denn passieren?“