Kretschmann vertritt die Interessen der Kirchen

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Foto: Bündnis 90/Die Grünen NRW (CC-BY-SA-2.0)

STUTTGART. (hpd) Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat in den letzten Wochen mehrfach gegenüber den Medien erklärt, dass er die Trennung von Staat und Kirche für einen großen Fehler hält. Es ist sein gutes Recht, dieser Meinung zu sein und diese auch öffentlich zu vertreten. Schwierig wird es, wenn er das in seiner hervorgehobenen Rolle als Politiker tut.

Durch eine "Pluralität der Religionen" will Winfried Kretschmann den säkularen Tendenzen und dem Laizismus entgegentreten.

Die Ausweitung des Religionsunterrichts, die Ausweitung der kirchlichen Privilegien (KdöR, kirchliche Träger für Sozialeinrichtungen, Kindergärten, Schulen, etc.) auf muslimische Gemeinschaften macht seiner Meinung nach die Religionsgemeinschaften zu Partnern des Staates. Wenn die Humanisten mehr Mitglieder hätten, könnte man auch einen humanistischen Weltanschauungsunterricht an der Schule einführen.

Er erklärt die Stärkung der Religionen zu einem Mittel gegen fundamentalistische Entwicklungen. Seiner Meinung nach macht Laizismus die Religion unsichtbar und verbannt sie unkontrollierbar in Hinterhöfe.

Er will keine Trennung von Religion und Staat, sondern eine "neue Ausbalancierung". Dabei soll der Staat wohlwollend neutral gegenüber den "sinnstiftenden" Religionsgemeinschaften sein und sich für die Förderung und Freiheit der Religionsgemeinschaften in einem säkularen Umfeld einsetzen.

Die Ansprüche der Säkularen werden dabei als radikale Ansprüche – so die Antwort von Kretschmann auf eine Wortmeldung von Michael Schmidt-Salomon – abgetan. Kretschmann fordert von den Säkularen Toleranz, Respekt, die Anerkennung der Gesetze und das Ertragen der Religionsgemeinschaften; jedoch keine "radikalen" Forderungen.

Diese Sichtweise der Amtskirchen und Politiker hat natürlich auch Schwächen. So wird die Pluralität im staatlichen Religionsunterricht gefordert, aber die Integrationswirkung des Ethikunterrichts ignoriert – von Ethikunterricht wird erst gar nicht gesprochen; oder wenn, dann abwertend.

Der Theologe und Prof. Höhn hat aufgezeigt, wie der Staat die neue Balance unterstützen könnte. Er betrachtet die Konflikte als konkurrierende Freiheits-Logiken. Die Freiheit der Religionsausübung steht der Freiheit der Nicht-religiösen gegenüber. Wobei die "Säkularisten" die bisherigen Regelungen nicht mehr akzeptieren und den Konsens aufgekündigt haben, z. B. beim Tanzverbot (hier wird religiöses Tun geschützt, auf säkularer Seite ein säkulares Tun untersagt). Deshalb brauchen die Religionen staatlichen Flankenschutz vom Staat und neue Regulierungen.

Bei der Beschneidung z.B. hat sich der Staat nicht auf die religiöse Logik oder ein modernes Ethos bezogen. Stattdessen hat er über die Bedingungen und Umstände der Ausführung des Rituals eine Entscheidung getroffen. Das ist ein Modell für die Regulierung eines säkularen Staates ohne Einmischung in religiöse Inhalte. Wenn man sich über religiöse Inhalte nicht einigen kann, kann man eine Einigung hinsichtlich der Umstände und Bedingungen ihrer Praxis suchen. Ähnlich kann der Staat in anderen Angelegenheiten entscheiden (Schulspeisung, Schwimmunterricht, rituelles Schlachten, Schutz der „stillen Feiertage“).

Kretschmanns Auftritt

Bei der Tagung "Freiheit von|für|mit Religion" am 18.10.2013 trat auch Winfried Kretschmann auf. Seine Aussagen waren sehr aufschlussreich. Denn er referierte über "Getrennt, aber nicht gleichgültig – Weiterentwicklung einer ausbalancierten Trennung von Staat und Religion."

Kretschmann kennt die säkularen Tendenzen recht gut und kann die Forderungen der Säkularen alle aufzählen – und er weist nahezu alle zurück.

Den Anwesenden ist dabei klar geworden, dass der Ministerpräsident kirchenfreundliche Standpunkte vehement vertritt und verteidigt. Für ihn gibt es keinen Grund, etwas an der derzeitigen Situation zu ändern. Man hatte den Eindruck, das Ziel der Tagung war, neue Argumente und Erklärungen zur Verteidigung des derzeitigen Zustandes zu finden.

Der Religionsunterricht muss so bleiben wie er ist, sogar ausgeweitet werden auf andere Religionsgemeinschaften. Denn der Religionsunterricht steht in der Verfassung und deshalb nicht zur Debatte: "Wenn wir Religionsunterricht an öffentlichen Schulen nicht hätten - man müsste ihn geradezu erfinden. Ist denn in Gesellschaften, in denen ein strikter Laizismus herrscht, irgendetwas besser? Nein! Die Religionen geraten an den Rand, und dort können sich dann fundamentalistische Tendenzen ausbreiten. Das schlägt dann zurück auf die Gesellschaft, und zwar nicht zu ihrem Vorteil. Damit ist also kein Freiheitsgewinn verbunden."

Der Ethikunterricht ist für Kretschmann keine weitere Überlegung wert. Dass der Ethikunterricht einen wertvollen Beitrag zur Integration (Migranten) leisten könnte, wird dabei vollständig ignoriert.

Auch kirchliche Privilegien bestreitet Kretschmann. Die Staatsdotationen an die Kirchen z.B. sind für ihn kein Privileg, sondern das Ergebnis einer rechtlichen Verpflichtung aus dem frühen 19. Jahrhundert. Die Ablösung kann sich der Staat nicht leisten.

W. Kretschmann kann keinen Vorteil eines laizistischen Staates erkennen, wie es Frankreich ist. Muslimische Organisationen ermuntert er sogar, ebenfalls soziale Einrichtungen zu betreiben, ähnlich wie Diakonie und Caritas. Auch die Aufhebung des Kirchensteuereinzuges durch den Staat könnte nach seiner Auffassung auch auf andere Körperschaften des öffentlichen Rechts ausgeweitet werden.

Er vertritt die Auffassung, dass die Erhebung der Kirchensteuer durch die progressive Gestaltung des Mitgliedsbeitrags sogar ein vorbildliches Modell sei: denn so zahlen die Reichen zahlen mehr, die Armen wenig oder gar nichts.

Natürlich verteidigt er auch den Schutz der Sonn- und Feiertage als Errungenschaft (er nennt es gar "Geschenk") für alle. Er wirkte regelrecht überrascht auf die Mitteilung, dass nicht nur am Karfreitag ein Tanzverbot besteht. In Zukunft könnte aber ein besonderer Schutz für manche Feiertage, etwa durch Tanzverbote, wegfallen.

Beim kirchlichen Arbeitsrecht empfiehlt er den Kirchen, über Änderungen nachzudenken. Der Staat sollte sich aber keinesfalls in die kirchliche Autonomie einmischen. Kretschmann verteidigte das kirchliche Arbeitsrecht mit den Worten: "Auch die Grünen-Fraktion wird einen rausschmeißen, wenn er bei der CSU ist." Dass dieser populistische Vergleich hinkt, war ihm nicht klar. Denn man kann nicht zwei Parteien gleichzeitig angehören. Ebensowenig, wie man nicht gleichzeitig konfessionsfrei und katholisch sein kann. Er räumte zwar ein, dass in dieser Frage Zugeständnisse möglich wären: In vielen Regionen Deutschlands gäbe es ein "faktisches kirchliches Trägermonopol". Hier könnten Freie Träger jedoch nur so lange Vorrang haben, wie ihr Anteil am Sozialmarkt ihrem Anteil an der Bevölkerung entspreche. Außerdem sollte es auch in kirchlichen Einrichtungen ein Streikrecht geben.

Die säkularen Grünen nimmt er kaum zur Kenntnis – lediglich auf Nachfrage kam die Antwort: "Wenn ich nicht aufpasse, fasst meine Partei immer laizistische Beschlüsse."

Mit Hilfe der Formulierung des früheren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Staat und die Verfassung lebe "von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann" begründet Kretschmann die Wichtigkeit der kirchlichen Gemeinschaften – um das auszufüllen, was der Staat wegen seiner weltanschaulichen Neutralität gar nicht ausfüllen darf. "Der Staat darf keinen Sinn stiften und braucht deshalb Gemeinschaften, die Sinn stiften."

Winfried Kretschmann fordert die Konfessionslosen auf, ihre Wünsche mitzuteilen. "Wünschen sie sich einen humanistischen Weltanschauungsunterricht?" Gleichzeitig machte er sich über die Humanisten lustig, indem er sagte, "Die Humanisten haben weniger Mitglieder als mein Heimatort katholische Einwohner."

Werner Koch

Nachfolgend einige Links zu Veröffentlichungen zu dem Thema, über das Winfried Kretschmann bei der Tagung referiert hat.

Stuttgarter Zeitung: Kretschmann bremst Laizisten
Stuttgarter Zeitung: Feiertag für Muslime? Für Kretschmann spricht nichts dagegen
Südkurier: Kirche ist die stärkste Kraft der Zivilgesellschaft
Christ in der Gegenwart: Aktive Religionsfreiheit
Domradio: Aus der "kritischen Kohorte"
Domradio: Für eine freundliche Sicht
evangelische Landeskirche: Kretschmann gegen strikte Trennung von Staat und Kirche
Säkulare Grüne: Keine Kirchenprivilegien in Deutschland vorhanden
Sven Gigold: Religionspolitische Veranstaltung am 21.6.2013 – Video- & Pressedokumentation