BERLIN. (hpd) Im Oktober legte Dr. Kreß das Gutachten "Die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht - sozialethisch vertretbar? Ein deutscher Sonderweg im Konflikt mit Grundrechten" im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung vor. Bevor es demnächst in Buchform erscheinen wird, erläutert der Professor für Sozialethik und Systematische Theologie an der Universität Bonn hier seine Sicht auf die Problematik des kirchlichen Arbeitsrechts im Zusammenhang mit den Grundrechten.
hpd: Schon alleine der Titel Ihres Gutachtens dürfte für viele Kirchenfunktionäre und Würdenträger sowie Kirchenjuristen eine Provokation darstellen, zumal Sie Professor für Systematische Theologie, insbesondere Ethik, an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn sind. Ist die Zeit für eine offene und kritische Auseinandersetzung auch in kirchlichen und theologischen Kreisen reif?
Hartmut Kreß: Das Gutachten ist nicht als Provokation gemeint – das wäre wenig sinnvoll –, sondern als sozialethischer und rechtsethischer Problemhinweis. Es erörtert, in welcher Hinsicht das Arbeitsrecht der beiden großen Kirchen zu den persönlichen Grundrechten von Arbeitnehmern in Spannung steht.
Ein Hintergrund der Fragestellung: Das Verhältnis der Kirchen zu Grundrechten bzw. Menschenrechten ist belastet. Bekanntlich hat die römisch-katholische Kirche erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Grund- und Menschenrechten ihren Frieden gemacht. Im Jahr 1965 akzeptierte sie dann im Prinzip auch die Religionsfreiheit als Grundrecht. Andererseits ist der Vatikan der Europäischen Menschenrechtskonvention bis heute nicht beigetreten. Auch auf evangelischer Seite gab es lange Zeit gegen die Idee der Menschenrechte große Vorbehalte. Im Jahr 1985 erschien schließlich die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie". Diese Denkschrift ist ein Symbol dafür, dass evangelische Kirchen zu Demokratie und Grundrechten heutzutage Ja sagen.
Jedoch ist eine Einschränkung zu sehen. Für ihren eigenen Bereich haben sich die beiden Kirchen die Grundrechte bisher noch nicht zu eigen gemacht. Juristisch gesagt: Für die Kirchen besteht keine Grundrechtsbindung. Dies wirkt sich besonders auf das kirchliche Arbeitsrecht aus. Für kirchliche Arbeitnehmer gelten der persönliche Grundrechtsschutz und auch weitere Arbeitnehmerrechte nur eingeschränkt. Hierzu besteht Diskussionsbedarf.
Dreh- und Angelpunkt für die Sonderrechte im kirchlichen Arbeitsrecht ist die Auslegung des Selbstbestimmungsrechts, das die Kirchen aus der Weimarer Reichsverfassung unter Berufung auf Artikel 140 GG i.V.m. Artikel 137 Absatz 3 WRV ableiten. Darin heißt es: "Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde." Ist es haltbar, daraus ein Streikverbot, den Ausschluss konfessionsloser Pförtner und Pfleger sowie ein abgeschwächtes Mitbestimmungs- und Tarifrecht zu rechtfertigen?
Für die Sonderregeln in ihrem Arbeitsrecht berufen sich die Kirchen auf das Selbstverwaltungsrecht, von dem in Artikel 140 Grundgesetz die Rede ist. Inzwischen wird staatskirchenrechtlich noch ein zusätzlicher Gesichtspunkt genannt. Ihm zufolge ist das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aus der Glaubens-, Religions- und Bekenntnisfreiheit abzuleiten, die das Grundgesetz in Artikel 4 garantiert.
Hierzu ist freilich anzumerken, dass Artikel 4 im Kern die Religionsfreiheit der einzelnen Menschen schützt. Die korporative Religionsfreiheit, die Kirchen als Institutionen in Anspruch nehmen, lässt sich auf Artikel 4 nur mittelbar, nur indirekt stützen. Normlogisch ist zu sagen, dass die persönlichen Grund- und Freiheitsrechte der Menschen vor korporativen Rechten den Vorrang haben. Das korporative Selbstbestimmungsrecht der Kirchen sollte daher nicht in Fremdbestimmung über Arbeitnehmer umschlagen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Arbeitnehmer unter Druck geraten, aufgrund der kirchlichen Ehelehre keine zweite Ehe einzugehen, oder wenn eine Kirchenmitgliedschaft die Voraussetzung dafür ist, eine Arbeitsstelle zu erhalten, oder wenn die römisch-katholische Kirche Mitarbeitern untersagt, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zu leben, obwohl diese Lebensform durch staatliches Gesetz geregelt ist und die Betreffenden sie ihrem Selbstbestimmungsrecht gemäß wünschen; und anderes. Auch das kirchliche Streikverbot gehört in diesen Zusammenhang.
Sie kritisieren das Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen vor dem Hintergrund der Säkularisierung und Pluralisierung der deutschen Gesellschaft. Zudem entspricht es Ihrer Meinung nach nicht dem christlichen Verständnis von Nächstenliebe – warum?
Eigentlich akzeptieren kirchliche Texte und Dokumente das Streikrecht. Die Kirchen lehnen es nur für ihren eigenen Bereich ab. Auf diese Weise spalten sie ihre Aussage zum Streikrecht außerkirchlich und innerkirchlich auf. Für die innerkirchliche Ablehnung müssten triftige und durchschlagende Gründe genannt werden. Wirklich durchschlagende Gründe fehlen aber. Besonders bedenklich ist es, wenn Kirchen das Nein zum Arbeitsstreik, das sie für ihre Einrichtungen aussprechen, dogmatisch oder religiös überhöhen. Ein Beispiel war die Formel, die 2010 von einer evangelischen Kirche in Umlauf gebracht wurde: "Gott kann man nicht bestreiken". Das innerkirchliche Streikverbot wird dann geradezu zu einer Bekenntnisaussage erhoben. Das ist auch theologisch nicht haltbar.
In Ihrer Frage erwähnen Sie die Nächstenliebe. Kirchliche Dokumente begründen das innerkirchliche Streikverbot oft damit, dass in kirchlichen Einrichtungen die Nächstenliebe "unterbrochen" werde, falls dort eine Streikmaßnahme erfolge. Dieses Argument halte ich nicht für überzeugend. Es setzt die schwächere Seite, die Arbeitnehmer, moralisch vorschnell ins Unrecht. Und es ist doch ohnehin nicht möglich und nicht realistisch, "ununterbrochen" Nächstenliebe zu verwirklichen, auch nicht in kirchlichen Einrichtungen. Im übrigen verhalten sich trotz aller guter Bemühungen kirchliche Arbeitgeber ihrerseits nicht immer strikt im Sinn der Nächstenliebe.
Andere Punkte wären zu ergänzen. Bei all dem gilt, dass ein Arbeitsstreik für Arbeitnehmer die letzte Möglichkeit der Interessenswahrung ist und er in gesetzlich geordneten Bahnen verlaufen soll. Patienten oder andere dürfen nicht zu Schaden kommen.
Halten Sie das Streikverbot auch für juristisch unhaltbar – und wie schätzen Sie den Gang nach Karlsruhe ein?
Am 20. November 2012 hat das Bundesarbeitsgericht zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen sein vielbeachtetes Urteil verkündet. Es fiel doppeldeutig und doppelseitig aus. Formal war die Gewerkschaft ver.di, die für das Streikrecht eintrat, die Gewinnerin des Prozesses. Inhaltlich entschied das Bundesarbeitsgericht aber im Wesentlichen zugunsten der Kirchen. Hieraus erklärt sich, dass ver.di im April 2013 gegen das kirchliche Streikverbot Verfassungsbeschwerde eingelegt hat. Der Marburger Bund hat sich angeschlossen.
Sollte es zur verfassungsrechtlichen Prüfung des kirchlichen Streikverbots kommen, werden das Selbstverwaltungsrecht und der Standpunkt der Kirchen auf die eine Waagschale zu legen sein. Dabei wird eingehender als vom Bundesarbeitsgericht zu klären sein, wie plausibel die Argumente der Kirchen sind. Auf der anderen Waagschale befinden sich die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer gemäß Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz und die Gewerkschaftsrechte. Die Sicht der Gewerkschaften ist ebenfalls grundrechtsgestützt. Daher wird sie deutlicher zu berücksichtigen sein als im November 2012 vom Bundesarbeitsgericht.
Davon ganz abgesehen: Bei anderen Trägern sozialer Einrichtungen, etwa dem Deutschen Roten Kreuz oder der Arbeiterwohlfahrt, sind Arbeitsstreiks statthaft. Ihr öffentliches Ansehen, ihre Reputation haben darunter nicht gelitten. Mir scheint, in Deutschland haben die Kirchen dem innerkirchlichen Nein zum Streikrecht zu viel Gewicht, einen viel zu hohen Symbolwert verliehen. Im europäischen Ausland kommen Kirchen damit zurecht, dass Arbeitsstreiks theoretisch möglich sind.
Bei der Problematik der Einschränkung individueller Grundrechte von Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen geht es um die Ausgrenzung Konfessionsloser und Andersgläubiger sowie zusätzliche Anforderungen an einen moralischen Lebenswandel durch die katholischen Arbeitgeber. Sehen Sie diese Sonderrechte problematisch, weil sie zum Glaubwürdigkeitsverlust der Kirchen führen oder weil die individuellen Grundrechte der Beschäftigten missachtet werden?
Beide Aspekte sind zu sehen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat in einer Pressemitteilung über mein Gutachten berichtet. Ein Kern- und Ausgangspunkt des Gutachtens ist der Schutz der persönlichen Grundrechte. Für den weltanschaulich neutralen Staat stellen die Achtung der Menschenwürde und der persönlichen Grundrechte die ideelle Grundlage dar. Das Bundesverfassungsgericht hat einmal gesagt, der Staat sei als Heimstatt aller Staatsbürger zu begreifen. Daraus folgt zugleich, dass er für die Grundrechte aller Staatsbürger Schutzpflichten zu übernehmen hat. Kirchliche Arbeitnehmer können hiervon nicht ausgenommen werden; sonst wären sie Staatsbürger mit verminderten, heruntergestuften Rechten. Aus ethischer und rechtsstaatlicher Perspektive ist also der Schutz der Grundrechte zu betonen.
Wenn man nun einen Perspektivenwechsel vornimmt und aus der Sicht der Kirchen ihr Arbeitsrecht bedenkt, dann ist zusätzlich zu sagen: Die Kirchen verspielen moralischen Kredit, wenn sie sich über legitime Interessen und persönliche Grundrechte von Beschäftigten hinwegsetzen. Einem Arzt in einer katholisch getragenen Klinik die Wiederverheiratung zu untersagen, stellt ihm gegenüber eine unbillige Härte dar. Oder: Von kirchlichen Arbeitnehmern ist zu hören, sie könnten es nicht nachvollziehen, dass ihnen für den Notfall das Streikrecht fehlt. Denn ihre Kolleginnen und Kollegen in benachbarten nichtkirchlichen Einrichtungen, die die gleiche Arbeit leisten, haben dieses Recht. Das heißt, manche Einschränkungen, die das kirchliche Arbeitsrecht vorsieht, sind unverständlich geworden. Insofern würde es dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Kirchen nutzen, wenn Korrekturen vorgenommen würden.