Der Religionsunterricht als Schulfach ist in Deutschland im Grundgesetz verankert. Das ist an sich schon kritikwürdig. Der entsprechende Grundgesetzartikel hält aber eine weitere Besonderheit bereit, die jedem auffällt, der sich mit den rechtlichen Grundlagen des Religionsunterrichtes an öffentlichen Schulen beschäftigt. Dort ist nämlich von einer Ausnahme die Rede, die es in der deutschen Schullandschaft praktisch aber gar nicht gibt. Auf diese nie realisierte Option macht jetzt eine Petition aufmerksam, die sich an die Kultusminister der Bundesländer richtet.
"Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach." (Hervorhebung durch den Autor) So wurde es von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates 1949 im Grundgesetz Artikel 7, Absatz 3 festgehalten. Wer bisher dachte, dass unsere öffentlichen Schulen im Kontrast etwa zu Schulen in kirchlicher Trägerschaft bekenntnisfreie Schulen sind, in denen der Religionsunterricht nur eine von stabilen politischen Mehrheiten gewollte Ausnahme im Stundenplan darstellt, wird sich vielleicht verwundert die Augen reiben. Öffentliche Schulen sind in Deutschland gemäß Grundgesetz, also im rechtlichen Sinne keine bekenntnisfreien Schulen.
Bekenntnisfreie Schulen sind nur die – theoretische – Ausnahme von der Regel. In der Realität gibt es solche Schulen aber gar nicht. Schulen mit einer solchen Bezeichnung sind in der Schullandschaft der Bundesländer nicht zu finden. Mit dieser skurrilen Tatsache hat sich Gerhard Czermak vom Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) beschäftigt. Theoretisch lässt unsere Verfassung öffentliche Schulen mit und ohne Religionsunterricht zu. Der Begriff "bekenntnisfreie Schule" wurde, so Czermak, aus der Zeit der Weimarer Republik ins Grundgesetz übernommen, sei aber schon damals umstritten gewesen. So habe sich die SPD gegenüber der Zentrumspartei dahingehend durchsetzen können, dass neben den als Regelschule vorgesehenen herkömmlichen, das heißt christlichen Schulen auch sogenannte Weltanschauungsschulen sowie weltliche Schulen auf Antrag zulässig waren. Als "bekenntnisfreie Schulen" galten in der Weimarer Republik später sowohl Weltanschauungsschulen im eigentlichen Sinn, die der Vermittlung bekenntnisähnlicher nichtreligiöser Überzeugungssysteme dienten, als auch ganz einfach weltliche Schulen. Laut Czermak hatte diese Begriffsbestimmung aber nur theoretische Bedeutung, denn es blieb damals in der Praxis beim Konfessionsschulsystem, weil das erforderliche Reichsvolksschulgesetz nicht zustande kam.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) stellte im Jahr 1992 fest, dass – wenn die Weltanschauungsschule nur ein Unterfall der bekenntnisfreien Schule ist – es noch mindestens eine weitere Fallgruppe geben müsse. Und diese könne in Vereinbarkeit mit Artikel 4 des Grundgesetzes (Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses) durchaus eine Schule ohne staatlichen Religionsunterricht sein, sofern sie den Faktor Religion und Weltanschauung angemessen behandelt. Hier könnte das Prinzip der "pluralistisch-offenen Neutralität" greifen, indem – wie Gerhard Czermak in einem weiteren Beitrag beim ifw erklärt – "die Schule die wesentlichen religiös-weltanschaulichen Richtungen ohne Wertung berücksichtigt, wobei die vermittelten Tatsachen zutreffen müssen und nicht einseitig ausgewählt sein dürfen." Diesem Anspruch dürfte ein für alle Schüler gemeinsamer Ethikunterricht, der unter anderem auch religionskundliche Inhalte vermittelt, gerecht werden. Einen solchen Unterricht fordert zum Beispiel der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), zuletzt in einer Pressemitteilung im Juni 2024.
Die Petition
Verfassungsrechtlich spricht, so Czermak, nichts gegen eine solche Auslegung des Artikels 7, Absatz 3 im Grundgesetz. Die Bundesländer, die für das Schulsystem zuständig sind, haben also auch bezüglich des Religionsunterrichts einen Gestaltungsspielraum. Auf diesen Gestaltungsspielraum macht jetzt eine Petition aufmerksam, die dazu aufruft, die öffentlichen Schulen in staatlicher Trägerschaft als bekenntnisfrei im Sinne des Grundgesetzes zu erklären.
Gestartet wurde die Petition mit dem Titel "Kein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen!" von Jan Szymik am 29. Juni. Der Initiator ist in Schwerin kommunalpolitisch engagiert, wo er von 2004 bis 2009 Stadtvertreter war und sich später für einen Bürgerhaushalt eingesetzt hat. Szymik kandidierte aktuell im Juni 2024 als parteiloser Einzelbewerber nochmals für die Schweriner Stadtvertretung, beteiligt sich aber, wie er auf Nachfrage mitteilt, auch ohne Mandat als Bürger an der Arbeit in den Ausschüssen. Er ist darüber hinaus auch mit den Themen der säkularen Verbände in Deutschland befasst und arbeitet beim Bündnis Altrechtliche Staatsleistungen abschaffen (BAStA) mit.
Jan Szymik begründet seine Petition zur Abschaffung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts unter anderem damit, dass sich die Schüler auf die relevanten Lerninhalte konzentrieren müssten, um sich optimal auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten. Deshalb soll Religionsunterricht an öffentlichen Schulen nicht mehr als ordentliches Lehrfach angeboten werden müssen, erklärt er. Zwar gehörten die kritische Auseinandersetzung mit Religion und die Beschäftigung mit den eigenen Wertvorstellungen zum Erwachsenwerden dazu. Der Religionsunterricht werde aber, so Szymik, "für das genaue Gegenteil eingesetzt. Er hat sich als Hintertür etabliert, über welche Religionsgemeinschaften und Kirchen konfessionellen Einfluss auf die Bildung und Erziehung unserer Kinder ausüben."
Er fordert, die Bildungsressourcen möglichst effizient "für wesentlichere Fächer und Inhalte" einzusetzen. Das Wissen über Religionen und soziale Kompetenzen sollte deshalb in anderen Fächern wie Geschichte, Philosophie oder Sozialkunde vermittelt werden, schlägt Szymik vor. Diese Lösung wäre sicherlich genauso wie ein gemeinsames Fach Ethik mit den verfassungsrechtlichen Erfordernissen vereinbar, würde man die Curricula der betreffenden Fächer entsprechend um religionskundliche Inhalte erweitern.
Von seiner Petition verspricht sich Jan Szymik mehr Aufmerksamkeit seitens der politischen Entscheidungsträger für das Thema. Er sagt, er habe durch seine Kinder erfahren müssen, dass schon im Grundschulalter versucht wurde, sie christlich zu missionieren. Weil sich der säkulare Staat den Religionen gegenüber neutral zu verhalten hat, ruft er in der Petition die verantwortlichen Politiker dazu auf, "sämtliche öffentlichen Schulen in staatlicher Trägerschaft als bekenntnisfrei im Sinne des Grundgesetzes zu deklarieren". Zu hoffen sei, so Szymik, dass sich zumindest in einem Bundesland der politische Wille für ein Versuchsprojekt findet und eine erste öffentliche Schule tatsächlich bekenntnisfrei wird.