Kirchenarbeitsrecht und Grundrechte

Kirchenmitgliedschaft als Voraussetzung statt Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kündigungen statt Schutz der Privatsphäre und Diskriminierung - eigentlich hätte doch Rechtsprechung und Gesetzgebung längst feststellen müssen, dass eine Abwägung zwischen den Grundrechten nicht stattfindet, weil in den meisten Urteilen und den aktuellen Gesetzen das vermeintliche Selbstbestimmungsrecht der Kirchen als vorrangig gesehen wird – bis hin zum letzten Urteil aus Karlsruhe aus 1985. Und zwar trotz der verfassungsrechtlich vorgegebenen praktischen Konkordanz, also des Abwägungsgebotes, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall des gekündigten Kirchenmusikers 2010 angemahnt hatte. Das Straßburger Gericht sah die unterlassene Abwägung durch deutsche Gerichte sogar als Menschenrechtsverletzung an. Wie schätzen Sie die Rechtsentwicklung ein, könnte es bald zu einem neuen, anderen Grundsatzurteil zu den Loyalitätspflichten kommen?

Vor allem wäre sinnvoll gewesen, wenn die beiden Kirchen selbst eine Reform ihres Arbeitsrechts vorangetrieben hätten. Im kirchlichen Arbeitsrecht stehen Theorie und Realität, Theorie und Praxis in manchen Punkten nicht mehr in Einklang. Nochmals ein Beispiel: Bis heute sehen die kirchlichen Vorgaben vor, dass kirchlich getragene Einrichtungen grundsätzlich nur Mitarbeiter einstellen, die der eigenen Konfession oder zumindest einer christlichen Kirche angehören. Faktisch beschäftigen sie aber auch zahlreiche Menschen, die einer anderen Religion angehören oder konfessionslos sind. Derartige Widersprüche und die daraus resultierenden Alltagsprobleme hätten schon lange aufgearbeitet werden sollen.

Stattdessen werden Streitfälle, die aufbrechen, vor Gerichten ausgetragen. Die Gerichte entscheiden nicht ganz einheitlich. Manchmal folgen sie kirchlichen Standpunkten ganz weitgehend. In anderen Fällen blicken sie genau hin und messen dem Grundrechtsschutz der Arbeitnehmer großes Gewicht zu. Auf Dauer wird sich in der Rechtsprechung wohl die zweite Tendenz durchsetzen. Dies entspricht den Schutzpflichten, die der Staat und die Rechtsordnung für die persönlichen Grundrechte der Arbeitnehmer zu übernehmen hat.

Eine spekulative Frage: Könnte das Urteil zum Streikrecht aus Karlsruhe zu einem Umdenken in der Rechtsprechung bzw. der Gesetzgebung bezüglich der Loyalitätspflichten führen? Welche Argumente der Richter könnten dazu beitragen?

Unter anderem das Anliegen der Nichtdiskriminierung. Dieses Anliegen war in den letzten Jahren zum Beispiel auch bei den Karlsruher Entscheidungen zur Besserstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften tragend. Grundrechtsschutz und Nichtdiskriminierung sind oft zwei Seiten einer Medaille.

Darüber hinaus beginnt sich aber auch die Politik für das kirchliche Arbeitsrecht zu interessieren. Als zwischen CDU, CSU und SPD der Koalitionsvertrag verhandelt wurde, war zunächst wörtlich hineingeschrieben worden, die künftige Regierung wolle die Kirchlichkeit "auch im kirchlichen Arbeitsrecht" achten. In der Endfassung ist der Bezug auf das kirchliche Arbeitsrecht gestrichen worden. Hieran sieht man, dass auf politischer Ebene das Thema wahrgenommen und dass offensichtlich auch kontrovers diskutiert wird.

Allerdings wird es wohl noch nicht gründlich und umfassend genug erörtert. Das Grundgesetz enthält die Vorgabe, dass den Kirchen Weltanschauungsgemeinschaften und andere Religionsgemeinschaften gleichgestellt sind; das gilt zum Beispiel auch für islamische Gemeinschaften. Theoretisch könnten auch sie, wie die Kirchen, ein eigenes nebenstaatliches Arbeitsrecht aufbauen. Ist es sicher, dass die Grundrechte und die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer dann immer hinlänglich gesichert wären? Und wie sieht es mit dem Humanistischen Verband (HVD) als einer nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaft aus? Der HVD verfolgt eine Doppelstrategie. Einerseits kritisiert er das tradierte Staatskirchenrecht. Andererseits bemüht er sich, dass Regelungen, die bislang für die Kirchen galten, auf ihn übertragen werden. Wenn der HVD ein eigenes Arbeitsrecht etabliert: Dürfte zum Beispiel eine von ihm eingestellte Muslima ein Kopftuch tragen? Würde sie in einer Kindertagesstätte eine leitende Funktion übernehmen dürfen? Offenbar wohl nicht. Auch hierzu besteht Bedarf an kritischer Diskussion. Bei künftigen Überlegungen zur Sonderstellung eines religiösen Arbeitsrechts ist nicht nur auf die Kirchen zu blicken, sondern gleichfalls nach Grundrechten und Rechtssicherheit in anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu fragen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist im Sozial- oder auch im Bildungs- oder Gesundheitswesen die Pluralität von Anbietern wichtig. Darüber darf das Arbeitsrecht aber nicht weiter zersplittert werden.

In der Kirchenklausel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 9 AGG) räumten deutsche Politiker eine "zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung" ein, die über die Intentionen der EU-Richtlinie aus 2000 hinausgeht. Diese erlaubt Ungleichbehandlungen nämlich nur in verkündigungsnahen Berufen, die deutsche Kirchenklausel erlaubt sie für das gesamte Personal, von der Gärtnerin über den Arzt bis zum Pastor. Inwiefern sollte es Kirchen selbst überlassen bleiben, den Stellenwert der Verkündigungsnähe selbst du definieren? Halten Sie §9 AGG für novellierungsbedürftig?

Ein erster Schritt könnte sein, § 9 AGG arbeitnehmerfreundlich und tolerant auszulegen. Entsprechende Ansätze sind im Schrifttum bereits vorhanden. Folgt man ihnen, dann wäre es für die katholische Kirche nicht mehr möglich, einen Arbeitsplatzbewerber abzuweisen, nur weil er in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt. Denn § 9 AGG erlaubt eine Ungleichbehandlung "wegen der Religion". Das heißt nicht ohne weiteres, dass die katholische Kirche einen Arbeitnehmer wegen seiner Lebensform und seiner sexuellen Identität zurückweisen darf. Denn hier geht es um elementare persönliche Grundrechte und um die Menschenwürde; und eine Zurückweisung oder Benachteiligung darf laut § 9 Absatz 1 AGG nur erfolgen, wenn sie sich konkret mit einer "gerechtfertigten beruflichen Anforderung" begründen lässt. Das ist eine hohe Hürde. Trotzdem sollte sich um des persönlichen Grundrechtsschutzes und der Rechtsklarheit willen letztlich der Gesetzgeber erneut mit dem Thema befassen.

Was den anderen Aspekt anbelangt: Es ist evident, dass Geistliche und Seelsorger der eigenen Konfession angehören müssen. Eine evangelische Pastorin muss evangelisch sein. Ich habe jedoch Zweifel, ob die Unterscheidung "verkündigungsnah" / "verkündigungsfern" für kirchlich getragene Einrichtungen im Sozial- oder Gesundheitswesen begriffsscharf genug ist und ob sie überhaupt handhabbar ist. Zum Beispiel wurde geäußert, in einer evangelisch getragenen Klinik sollten Ärzte, die Untersuchungen durchführen, evangelisch oder zumindest christlich sein; für die Anästhesie gelte dies nicht so streng. Solche Abgrenzungen sind unplausibel. Kirchlich getragene Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens erfüllen öffentliche Aufgaben. Hierfür werden sie weitgehend refinanziert. Sie stehen im Wettbewerb mit anderen Anbietern. Daher sollten bei ihnen die Fachkompetenz der Mitarbeiter und die Qualität der Dienstleistungen den Ausschlag geben.

Die Kirchenmitglieder werden weniger, aber die kirchlichen Einrichtungen nehmen zu. Um diese überhaupt betreiben zu können, wird auch mit weniger "lupenreinem" Personal gearbeitet. Belegt diese Tatsache nicht, dass es eben doch möglich ist, nicht ausschließlich mit Kolleginnen und Kollegen des gleichen Glaubens den "Dienst am Herrn" in einer sogenannten Dienstgemeinschaft zu erfüllen? Welche weiteren Probleme sehen Sie bei der sowohl theologischen als auch juristischen Verteidigung des Begriffs als geradezu zwingendes Argument der Kirchen für die Sonderrechte?

Die Formulierung "Dienst am Herrn" kenne ich so nicht, wohl aber den Begriff der Dienstgemeinschaft. Er wird oft verwendet, um die Sonderstellung der Kirchen in der Arbeitswelt zu begründen und zum Beispiel das Nein zu Arbeitsstreiks zu rechtfertigen. Mit dem Wort "Dienstgemeinschaft" verknüpfen sich freilich Vorstellungen von Überschaubarkeit, Harmonie und Homogenität, die auf Caritas und Diakonie als Großorganisationen heute nicht mehr zutreffen. Um stattdessen einen anderen Begriff ins Spiel zu bringen, der in der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts geprägt wurde: Die Kirche sei als "Kirche für andere" zu verstehen. Diesem Leitbild zufolge würde es heute zum Selbstverständnis der Kirche hinzugehören, sich in sozialer Hinsicht, in Brennpunkten der Kinder- und Jugendhilfe, im medizinischen oder im pflegerischen Bereich zu engagieren. Aus dem Begriff lassen sich keine Sonderrechte der Kirche ableiten; aber er kann als Impuls dienen, in kirchlich getragenen Einrichtungen eine humane, arbeitnehmerfreundliche und adressatenorientierte Unternehmenskultur auszubauen.

Anfang November beschloss die Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) ein neues Gesetz, das eine nur leicht modifizierte Beibehaltung des "Dritten Wegs" kircheninterner Lohnfindung bedeutet. Der dort beschlossene Stillstand wird auch Sie bezüglich kircheninterner Reformbestrebungen nicht gerade optimistisch stimmen, oder?

Die EKD-Synode hat auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. November 2012 reagiert. Sie blieb beim Nein zum Streikrecht und hat zum Beispiel auch keine Unternehmensmitbestimmung angebahnt. Immerhin ist sie ein Stückweit auf Gewerkschaften zugegangen und hat theoretisch offengehalten, dass neben dem herkömmlichen Dritten Weg für kirchliche Einrichtungen Tarifverträge abgeschlossen werden dürfen. Es wird viel darauf ankommen, wie die einzelnen Landeskirchen mit den EKD-Beschlüssen umgehen. Das neue, im November 2013 beschlossene EKD-Gesetz stellt zwar keinen Durchbruch dar. Aber es wird deutlich, dass angestoßen von Rechtsprechung und Richterrecht auch in den Kirchen Bewegung entstanden ist.

Herzlichen Dank

Das Gespräch führte Corinna Gekeler für den hpd.

Hartmut Kreß, Die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht - sozialethisch vertretbar? Ein deutscher Sonderweg im Konflikt mit Grundrechten, Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, erscheint 2014 in der Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung im Nomos-Verlag

Kurzdarstellung der Projektergebnisse durch die Hans-Böckler-Stiftung: "Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht", online

Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 6.11.2013: "Sozialethiker warnt vor Glaubwürdigkeitsproblemen. Gutachten: Arbeitsrechtlicher Sonderweg der Kirchen ethisch und theologisch nicht mehr zu rechtfertigen", online

Böckler-Impuls 18/2013 vom 13.11.2013: "Arbeitsrecht. Kirchen missachten Grundrechte", online