WIEN. (hpd) Die Weihnachtszeit erreicht ihren Höhepunkt. Sei's der Einkauf fürs Festtagsmenü im übervollen Supermarkt in letzter Minute, sei's ein Weihnachtslied aus Kinderkehlen, so treuherzig, freudig und falsch angestimmt wie möglich, sei's der Pflichtbesuch bei den (Schwieger)Eltern – für die nächsten Tage benötigt man Nerven aus Stahl. Mit seiner Weihnachtsglosse versucht unserer Österreich-Korrespondent Christoph Baumgarten die schlimmsten Momente leichter überstehbar zu machen.
Einmal zu oft "Last Christmas" gehört zu haben muss eine juristisch haltbare Begründung für einen Amoklauf sein. Wenn diese Folter selbst für völlig Unmusikalische nicht vorübergehenden Wahnsinn und damit Unzurechnungsfähigkeit rechtfertigt, was dann? Wenn man nur den Ladenbesitzer erschießt, kann man auch auf Notwehr plädieren. Jedes Gericht der Welt wird das verstehen. Garantiert.
Gut, zur Not kann auch "Oh Tannenbaum" als Begründung herhalten. Gleich penetrant, gleich omnipräsent. Sprich: Gleich verstandeszersetzend und nervenzerstörend. In den Wahnsinn treibend. Freilich, hier kann man sich selbst schützen. Einfach einen anderen Text denken. Oder laut singen. Noch besser. Zum Beispiel einen Appell an die Revolution, die die arbeitenden Menschen von ihren Ketten befreit. Ein kleiner Beitrag gegen die zu Weihnachten verordnete Zwangsharmonie.
Auf zur Revolution
Klingt weit hergeholt? Ist es nicht. Die britische Labour Party tut das seit 1909. Ebenso die Industrial Workers of the World. Das Lied heißt "The Red Flag":
The people's flag is deepest red,
It shrouded oft our martyred dead,
And ere their limbs grew stiff and cold,
Their hearts' blood dyed its every fold.
Then raise the scarlet standard high.
Within its shade we live and die,
Though cowards flinch and traitors sneer,
We'll keep the red flag flying here.
Ursprünglich wurde das Lied zugegebenermaßen zur etwas flotteren irischen Melodie "The White Stockade" gesungen.
Böse Zungen behaupten, der Niedergang der Labour Party hätte in dem Moment begonnen, als sie zur getragenen Melodie von "Oh Tannenbaum" wechselte. Dem ist einiges abzugewinnen.
Die antiemanzipatorische Alternative
Wem das zu rot ist – auch die Hymne des US-Bundesstaats Maryland wird zu "Oh Tannenbaum" gesungen. Ähnlich wie die Labour Party bediente man sich vermutlich einfach einer Melodie, die jeder kannte:
The despot's heel is on thy shore, Maryland!
His torch is at thy temple door, Maryland!
Avenge the patriotic gore
That flecked the streets of Baltimore,
And be the battle queen of yore, Maryland! My Maryland!
Das Lied ist alles andere als rot. Es war ursprünglich ein Kampflied der Konföderierten im US-amerikanischen Bürgerkrieg. Der Despot, der hier angesprochen wird, ist Abraham Lincoln. Der Präsident, der die Sklaven befreite. Als Alternativ-Version zu "Oh Tannenbaum" erscheint es eher für konservativere Geister geeignet. Auch die sind Menschen und leiden genauso unter der Weihnachtszeit wie jeder andere.
Bedenkt man den politischen Hintergrund des Liedes, passt es mit seinem ausgesprochen antiemzipatorischen Charakter hervorragend zum Fest.
Chemische Reinigung
Ein Kritikpunkt an Weihnachten ist der Konsumrausch, in den nicht nur die westliche Gesellschaft kollektiv verfällt. Diese Kritik ist nicht nur ein Symptom einer saturierten Wohlstandsgesellschaft, in der einzelne gut Situierte dem Rest Verzicht predigen – ein klassisch christlicher Topos übrigens.
Wer genau hinsieht, wird gerade im Zwang zum Schenken und der weihnachtlichen Zwangsharmonie Phänomene sehen, die die soziale Ungerechtigkeit einer Gesellschaft auf die Spitze treiben. Ein früher Beobachter dieses Symptoms war Erich Kästner. Er schrieb 1928 mit "Weihnachtslied chemisch gereinigt" einen alternativen Text zu "Morgen, Kinder wird's was geben", einem weiteren Lied, das Amokläufe zu provozieren geeignet ist:
Morgen, Kinder, wird's nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte Euch das Leben.
Das genügt, wenn man's bedenkt.
Einmal kommt auch Eure Zeit.
Morgen ist's noch nicht so weit.
Sympathisch an dieser Interpretation ist, dass sie so falsch gesungen ist wie meist aus Kinderkehlen unterm Christbaum.
Ein vergessenes Juwel
Eher vergessen ist eines der Lieder, das die gesellschaftlichen Umstände anprangert, die die sozialen Ungleichheiten erst erzeugen. Die "Arbeiter-Stille-Nacht", auch bekannt als "Stille Nacht, traurige Nacht", entstand nach 1890 und kann als Mutter der kritischen Weihnachtslieder gesehen werden.
Es zu singen war nicht ungefährlich. Im Deutschen Kaiserreich, und vermutlich auch in Österreich, wurde es immer wieder verboten.
Stille Nacht, traurige Nacht,
rings umher Lichterpracht!
In der Hütte nur Elend und Not,
kalt und öde, kein Licht und kein Brot,
schläft die Armut auf Stroh,
schläft die Armut auf Stroh.
Stille Nacht, traurige Nacht,
hast du Brot mitgebracht,
fragen hungrige Kinderlein.
Seufzend spricht der Vater: Nein.
Bin noch arbeitslos,
bin noch arbeitslos.
Stille Nacht, traurige Nacht,
drunten tief in dem Schacht
schlagen Wetter, welch' gräßliche Fron!
Gräbt der Bergmann für niedrigen Lohn
für die Reichen das Gold,
für die Reichen das Gold.
Stille Nacht, traurige Nacht,
Henkersknecht hält die Wacht
in dem Kerker gefesselt, geächt',
leidet schmachtend für Wahrheit und Recht.
Mutige Kämpferschar,
mutige Kämpferschar.
Stille Nacht, traurige Nacht,
Arbeitsvolk, aufgewacht!
Kämpfe mutig mit heiliger Pflicht,
bis die Weihnacht der Menschheit anbricht.
Bis die Freiheit ist da,
bis die Freiheit ist da.
Wie vergessen das Lied ist, zeigt die Tatsache, dass es auf Youtube kaum Versionen gibt.)* Das sollte niemanden abhalten, es zu singen. Und sei es nur, um das kitschige Original aus dem Kopf zu bekommen.
Christoph Baumgarten
Wer mehr Material braucht, um Weihnachten zu ertragen, findet es in den bisherigen Weihnachtsglossen unseres Österreich-Korrespondenten:
Der Weihnachtsmann beißt nicht
Ich kaufe nie wieder Ölsardinden
)* Wir danken unserem Leser, der dieses Video aufgestöbert hat.