Kommentar

Wir müssen das Gewaltpotenzial der Religionen erkennen

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Sigmar Gabriel (SPD)
Sigmar Gabriel (SPD)

Sigmar Gabriel veranstaltete eine dreitägige Konferenz zur "Friedensverantwortung der Religionen". Im Vorfeld der Konferenz, die gestern endete, schrieb der Außenminister einen Gastbeitrag für den Berliner Tagesspiegel. Dort warnte er davor, Religionen stets nur als konfliktverschärfend anzusehen und verharmloste dabei das enorme Gewaltpotenzial, das von ihnen ausgeht. Ein Kommentar.

Die Geschichte der Religionen ist zu großen Stücken eine Kriminalgeschichte. Und auch in der Gegenwart vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über religiös motivierte Gewalt und Terrorismus berichtet wird. Es mag auf den ersten Blick irritieren, dass ausgerechnet jene Weltanschauungen, die Nächstenliebe und Barmherzigkeit predigen, ein solches Gewalt- und Eskalationspotenzial aufweisen. Handelt es sich also womöglich bloß um einen Missbrauch der Religion, wie jüngst von Sigmar Gabriel apodiktisch erklärt wurde?

Für den Außenminister liegt es jedenfalls auf der Hand, dass die weltweiten Konflikte nicht wirklich religiös, sondern "pseudoreligiös aufgeladen" werden. Die Religion werde "als reines Feigenblatt" benutzt. Dadurch bestehe die Gefahr, dass die "positive Kraft" der Religionen verkannt wird, nämlich "die Überwindung der Angst, das Vertrauen auf die Barmherzigkeit und die Weitergabe dieser Barmherzigkeit an den Nächsten." Einen großen Fehler begehe daher derjenige, der "nur das Stereotyp pflegt, dass Religion stets konfliktverschärfend wirkt."

Missbrauch oder Gebrauch der Religion?

Offenbar ist Sigmar Gabriel nicht bewusst, dass er mit seinem Mantra vom "Missbrauch der Religion" eine problematische Verharmlosungsstrategie bedient. Ein Missbrauch der Religion setzt nämlich voraus, dass es eine wahre, friedliche Auslegung der Religion gibt, die den zugrunde liegenden Texten entspricht. Wirft man einen unvoreingenommenen Blick auf die Texte der Offenbarungsreligionen, wird jedoch schnell deutlich, dass es schon einiger selektiver Wahrnehmung oder exegetischer Verrenkungen bedarf, um eine menschenfreundliche Lesart zu entwickeln. Die Gewalt ist ein wesentlicher Bestandteil der Religionen, die nicht missbraucht, sondern gebraucht wird.

Anstatt den Wahrheitsanspruch "heiliger Texte" grundsätzlich infrage zu stellen und sich von ihrer vermeintlichen Unantastbarkeit zu emanzipieren, pickt man die friedlichen Stellen heraus und verschließt die Augen vor jenen Passagen, die zu Gewalt und Hass aufrufen. Ihre Macht verlieren letztere dadurch allerdings nicht.

Intellektuelle Redlichkeit statt Verniedlichung

Die Annahme, dass Religion stets konfliktverschärfend wirkt, ist natürlich eine unzulässige Verallgemeinerung der politischen Realität. Sigmar Gabriel pflegt aber selbst ein weitaus realitätsferneres Stereotyp, wenn er Religionen pauschal verniedlicht und ihr innewohnendes Gewaltpotenzial nicht klar benennt. Er verhindert dadurch eine intellektuell redliche Auseinandersetzung mit jener Gewalt, die ihre Motivation, Rechtfertigung, Organisation und Ideologie direkt aus der Religion bezieht. Frieden lässt sich mit einer solchen Naivität jedenfalls nicht schaffen.