Wie säkular ist unsere Gesellschaft?

In den 1960er und 1970er Jahren öffneten sich die Kirchen gegenüber der modernen Gesellschaft. Erinnert sei an das Zweite Vatikanische Konzil in Rom und den in diesen Jahren sprunghaften Ausbau von sozialen Einrichtungen der Caritas und Diakonie in Westdeutschland. Es war der Übergang von der "strafenden" zur "helfenden" Kirche, vom "gläubig folgenden" zum eher "suchenden Christen". Neue Spiritualität und erlebnisreiche Gottesdienste prägten diese Jahrzehnte. Dennoch zerfiel die kulturelle und politische Position der Kirchen. An die Stelle von Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit traten Werte wie Selbstverwirklichung, politische Teilhabe, sexuelle Selbstbestimmung und Lebensgenuss. Das führte Ende der 60er Jahre zu einer breiten Kirchenaustrittswelle. Analysiert man die Zahlen der Kirchenaustritte aus den katholischen Bistümern und evangelischen Landeskirchen seit dieser Zeit, so zeigen sich zwei statistische „Hochphasen“ und vier „Gipfelpunkte“. Die beiden Hochphasen sind die gesellschaftskritischen Jahre 1969-1978 und die von 1990-1995. Die vier statistischen Gipfeljahre innerhalb dieser beiden Phasen sind Reaktionen auf materielle, politische Vorkommnisse: 1970 der Konjunkturzuschlag, 1974 die Stabilitätsabgabe, 1991 die Einführung der Kirchensteuer in den Neuen Bundesländern und 1995 der Solidaritätszuschlag. 

Dabei laufen die beiden Phasen und die Gipfelpunkte bei den beiden großen Kirchen parallel — wobei interessant ist, dass sich der jahrzehntelange Abstand von 2 zu 1 bei den Kirchenaustritten zugunsten der Katholiken seit 1995 erheblich verringert hat und sie jetzt mit den Protestanten gleichziehen. 1990 wird zum ersten Mal die Anzahl von 100.000 Austritten pro Jahr bei beiden Kirchen überschritten.

Das soziologische Feld "DDR" ist für viele Religionssoziologen ein beliebtes Untersuchungsfeld. Die Kirche in der sozialistischen Gesellschaft war durchaus Bestandteil des öffentlichen und politischen Lebens, aber die soziale Fürsorge wurde weitgehend von staatlichen Institutionen übernommen. Dies war auch ihr gesellschaftspolitischer Anspruch.

Sicherlich war es in der DDR nicht gerade karriereförderlich, sich religiös zu betätigen und der Kirchenaustritt für viele Funktionäre faktisch vorausgesetzt. Aber davon unabhängig wurde gesellschaftlich in großem Maße der Kirche der Rücken gekehrt. Ideologisch wurde der Atheismus als aufgeklärte, dem fortschrittlichen Bürger entsprechende Einstellung gegenüber vertreten.

"Ein weiterer Faktor" schreibt Detlef Pollack, in "Säkularisierung — ein moderner Mythos?" auf Seite 80, "lag im sozial-strukturellen Umbau, der in Ostdeutschland Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren vollzogen wurde. In dieser Zeit wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Vergenossenschaftlichung des Handwerks, die Vertreibung des Besitzbürgertums sowie die Entmachtung des Bildungsbürgertums mit Mitteln der staatlichen Gewalt betrieben. An die Stelle der bisherigen gesellschaftlichen Eliten traten Aufsteiger aus der Arbeiterklasse und Angestelltenschicht. Dieser sozial-strukturelle Umbau der Gesellschaft brach den evangelischen Kirchen das sozial-strukturelle Rückgrat, denn der Protestantismus war vor allem in der Bauernschaft, bei den Akademikern und bei den selbständigen Handwerkern überrepräsentiert. Außerdem trugen zur Entkirchlichung auch Prozesse der Modernisierung bei ... Der Lebensstandard erhöhte sich, die alternativen Freizeitangebote vervielfältigten sich und gewannen an Attraktivität, das Bildungsniveau stieg an. Rationalisierung, Industrialisierung und Urbanisierung veränderten die Alltagswelt sowie das Alltagsdenken der DDR-Bürger. Auch diese Prozesse übten einen negativen Einfluß auf die Kirchenbindung aus."

Der Anteil der Mitglieder der evangelischen Kirche an der ostdeutschen Bevölkerung sank von 90 Prozent im Jahr 1949 auf 30 Prozent in 1989 und liegt derzeit bei etwa 20 Prozent.

Nachdem die ostdeutschen Kirchen 1989 einen gewissen Nimbus als Widerstandskraft erringen konnten, verloren sie ihn schnell wieder nach dem Anschluß der DDR an die die Bundesrepublik und die Westkirche. Ein markanter Grund dafür war die Zustimmung der neu gegründeten Landeskirchen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zum nun ebenfalls „staatsidentischen“ Militärseelsorgevertrag. Der bis zuletzt aufflackernde Widerstand wurde mit kirchlichem Geld gebrochen. Vom Westen mit Milliarden DM-Beträgen schon zu DDR-Zeiten gestützt, trugen diese Kirchen nichts zu einer neuen Identität und einem neuen Selbstverständnis der dortigen Bevölkerung bei.

Gottesglaube und Bruttosozialprodukt

Zum Schluß sei auf die Grafik "Gottesglaube und Bruttosozialprodukt pro Kopf in Westeuropa" mit einem erläuternden Zitat von Detlef Pollack aus "Religion und Moderne", Seite 29, hingewiesen.

"Herauszufinden, worin die Ursachen dieses allgemein zu konstatierenden Rückgangs individueller Religiosität bestehen, erfordert die Durchführung komplexer Analysen... Es sei aber … zumindest darauf hingewiesen, dass das Religionsniveau, gemessen etwa am Kirchgang, am Glauben an 'Gott' oder an der Bedeutung, die der Einzelne Religion in seinem Leben zuweist, mit dem Modernitätsniveau sinkt. Je wohlhabender Gesellschaften sind, je geringer das Ausmaß sozialer Ungleichheit in ihnen ist und je besser der Sozialstaat ausgebaut ist, desto geringer ist das Religiositätsniveau. Dieser Zusammenhang sei hier an der Korrelation zwischen GDP per Capita (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) und Glaube an 'Gott' exemplarisch verdeutlicht."

Es ist eben durchaus auch möglich, dass die Segnungen der Moderne den religiösen Eifer schlichtweg erlahmen lassen: Je angenehmer sich das irdische Leben hienieden darstellt, desto schwerer ist es, sein Augenmerk darauf zu richten, was danach im Jenseits dermaleinst kommen soll. Die Ungläubigen und Skeptiker wirft daher die Kirche aus ihrem Himmel der Göttlichen Weisheit heraus; so wie es auf einem Bild in der Bibliothek im Stift Admont drastisch dargestellt wird. Ihnen ist der Himmel verloren gegangen.

 


Quellen: Detlef Pollack, "Religion und Moderne", Bochum 2007
Detlef Pollack, "Säkularisierung — ein moderner Mythos?", Tübingen 2012
Niklas Luhmann, "Die Religion der Gesellschaft", Frankfurt 2002
fowid (Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland)