BERLIN. (hpd) Die vorherrschende politische Meinung, Mainstream-Medien und klerikale Kreise führen hierzulande in allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen immer stärker das Schlagwort von der "christlich-abendländischen" Kultur bzw. Identität ins Feld. Das ist sachlich falsch. Und sie beschwören voller Inbrunst die "christlichen Wurzeln" Europas; oftmals sogar als "christlich-jüdisch" bezeichnet. Mit dieser frommen – und sehr interessengeleiteten – Legende setzt sich der Historiker Rolf Bergmeier in seinem jüngsten Buch "Christlich-abendländische Kultur" auseinander.
In fünf Kapiteln betrachtet Bergmeier den Übergang des mediterranen Raumes, ausgehend vom Römischen Reich, von der paganen antiken griechisch-römischen zur christlich geprägten mittelalterlichen Kultur – in ihrer römisch-katholischen bzw. byzantinisch-orthodoxen Ausprägung. Und, das unterscheidet den Autor von sehr vielen anderen, er betrachtet parallel dazu die seinerzeit gleichzeitig stattfindende Entwicklung des islamischen Kulturraumes von Bagdad im asiatischen Osten bis Cordoba im europäischen Westen.
Gerade der Vergleich der mitteleuropäischen (katholischen) Klosterkultur mit dem muslimischen Kalifat auf der iberischen Halbinsel zeigt, daß das "Abendland Europa" keineswegs nur christliche Wurzeln hat. Im Gegenteil! Neben griechisch- römischen und keltisch-germanischen Wurzeln gründet das heutige Europa in nicht geringem Maße auch auf arabisch-islamische Elemente.
Bergmeiers kultur-historische Abhandlung leistet somit einen wesentlich besseren und dazu noch sehr fundierten Beitrag zu allen aktuellen Integrationsdebatten; einen besseren als der immer wieder beschworene und herablassend angebotene "interreligiöse Dialog". Und Bergmeiers Verdienst besteht auch darin, daß er seinen Gegenstand nicht vom, leider noch fast immer vorherrschenden, einseitigen eurozentristischen Blickwinkel aus betrachtet. Er bringt mit seiner globaleren Weltsicht den gesamten einst geschlossenen Mittelmeerraum in Erinnerung und zeigt auf, daß sowohl der christlich-europäische als auch der arabisch-islamische Kulturkreis aus gemeinsamen Quellen schöpfen und sogar auf eine nahezu identische Vergangenheit zurückblicken können.
Der Autor schwimmt nicht nur mit diesem Buch gegen den Strom und den Zeitgeist, also gegen Einseitigkeiten, Vorurteile und Denkverbote. Bergmeiers Buch ist auf hohem intellektuellen Niveau geschrieben und zugleich in einer leserfreundlichen Sprache gehalten – ist also im besten Sinne des Wortes "populärwissenschaftlich" und zum weiteren Nachdenken anregend.
Auf nur etwas mehr als 200 Seiten führt Rolf Bergmeier eine Fülle von konkret belegten Fakten aus allen für eine Kultur/Zivilisation relevanten Bereichen an, auf die deshalb hier nicht ausführlich eingegangen werden kann.
Im ersten Kapitel "Hintergrund. Die Kultur des Mittelmeerraumes im 4. bis 7. Jahrhundert" beleuchtet der Autor die von Geist, Schönheit und Pragmatik geprägte Kultur der Spätantike und deren Verfall ab Erhebung des Christentums zur Staatsreligion bzw. Staatskirche. Zu dieser Zeit war das Christentum keinesfalls ein Monolith, denn es bekämpften sich seinerzeit bis auf heftigste die verschiedensten Bischöfe mitsamt ihrer jeweiligen Gruppen und Grüppchen (rund 80 sind bis dato nachgewiesen). Er geht auch auf den durchaus anderen Weg ("Überlebenskünstler") der östlichen Reichshälfte (Byzanz, Orthodoxie) ein. Das Kapitel schließt mit dem Abschnitt "Islamischer Sturm und Drang – der Siegeszug einer neuen Religion".
Zum Siegeszug der muslimischen Araber schreibt Bergmeier: "Die arabischen Siege sind leicht errungen, die Schlachten unbedeutend. Viele der eroberten Völker, Juden und Christen, (…) unterstützen die Araber bei der Eroberung des Landes. (…) Die meisten Städte fallen mit einem intakten kulturellen Leben und mit großen Bibliotheken unzerstört in die Hände der Eroberer, meist durch förmliche Kapitulationsverträge. Palästina, Syrien und Ägypten wehren sich noch nicht einmal..." (S. 41)
Und wie erklärt sich der Siegeszug in Europa?
"Der rasche Erfolg der Muslime in Spanien und den übrigen Regionen erklärt sich nicht zuletzt aus dem feindseligen Verhalten des katholischen Christentums zu innerchristlichen Konkurrenten und anderen Weltanschauungen. (…) Ein ganzes Bündel von Faktoren erklärt, warum es dem Islam gelingt, innerhalb weniger Jahrzehnte auch urchristliche Länder häufig ohne Kampf einzunehmen, die folgende Konversionswelle zum Islam und die fruchtbare Kooperation der Juden mit den neuen muslimischen Herren (…) Insgesamt geht es der großen Masse besser als unter westgotisch-katholischer Herrschaft, so daß verständlich wird, daß Juden, 'häretische' Christen, Leibeigene und verarmte Bürger den Augenblick ihrer Befreiung vom westgotisch-christlichen Joch herbeisehnen und die muslimische Eroberung Spaniens unterstützen." (S. 44/45)
Bergmeier zeigt aber auch auf, warum diese islamische Hochkultur auf europäischen Boden endete.
Im zweiten Kapitel "Arabische und mitteleuropäische Parallelwelten" zieht der Autor detaillierte Vergleiche, beginnend mit der "Genese zweier Kulturen": "Aus dem Wüstenstaub in eine Kultur aus tausendundeiner Nacht" bzw. "Aus der Antike in ein mitteleuropäisches Christentum". Zu letzterem heißt es lapidar: "In dieser Zeit griechisch-arabisch-asiatischer Hochkultur spielt das christliche [also das katholische; SRK] Mitteleuropa nur eine untergeordnete Rolle."(S. 53)
Und das wird u.a. aufgezeigt in den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels. So in "Bildung und Wissenschaft" mit breiter allgemeiner Schulbildung in der islamischen Welt ("Eine Buchreligion ohne Priester bedarf lesekundiger Gläubiger." / S. 59) und fast vollständigem Analphabetentum in der christlichen. Unbildung war und ist eben Voraussetzung für jede Priesterherrschaft! Und selbst für christliche Priester und Mönche genügten im Mittelalter minimale Lese- und Schreibkenntnisse...
Besonders deutlich wird das im Abschnitt "Bücher und Bibliotheken": In jeder muslimisch regierten Stadt gab es Bibliotheken mit Büchern aus der ganzen damaligen bekannten Welt, einschließlich des griechisch-römischen Erbes. Mit Tausenden und gar Hunderttausenden von Bänden aller Wissensgebiete und Genres... Die christlichen Klosterbibliotheken, die immer noch als Bewahrer und Quellen von Kultur und Wissenschaft idealisiert werden, verfügten nur jeweils über einige wenige hundert, und zumeist nur christlich-theologischen Inhalts. Sofern es hier noch antike Schriften gab, dann dienten diese lediglich als Mittel zum Zweck fürs Lateinlernen; denn heidnische Philosophie und Belletristik galten als Teufelswerk. (Heute aber immer noch "zu erzählen, die Klöster seien die Wahrer der antiken Texte gewesen, stellt die Überlieferungstradition schon ziemlich auf den Kopf." / S. 72)
Und im hundertprozentigen Gegensatz zu christlichen geistlichen und weltlichen Herren schätzten die muslimischen die Philosophie, auch die griechisch-römische...
Bergmeier vergleicht ausführlich den Entwicklungsstand von Medizin und Pharmazie, sowie die Anwendung von ärztlichem Können. Auch hier war der arabisch-islamische Kulturraum mit seinen Akademien und Spitälern der christlich-europäischen Klostermedizin für viele Jahrhunderte um Längen voraus: Die Klostermedizin und die hierzulande vergötterte Hildegard von Bingen (mit den "Arzneien Kräuter, Steine, Beten und Fasten") sind dagegen nur ein "abenteuerliches Gemisch aus Theologie, Mystik und Dreckapotheke". (S. 95)
Und ähnlich negativ für die Welt des katholischen Christentums fallen auch die Vergleiche in den Wissenschaften Mathematik und Astronomie aus. Hier haben die muslimischen Wissenschaftler nicht nur antikes Wissen übernommen, sondern ebenso indisches und persisches. Aber eben nicht nur (wie in der Medizin auch) übernommen, sondern vor allem zusammengeführt und weiterentwickelt.
Gleiches gilt für die Weiterentwicklung der Technik, seien es Wasserkraft und Bewässerung, Feinmechanik, mechanische Uhren, Geographie und Landkarten oder die Papierproduktion.