Heimkinder

Wo ist die deutsche Einheit?

Das "ungeliebte Kind" - die Fondslösung für die ehemaligen Heimkinder

von Ingo J. Skoneczny

Als ich gebeten wurde, eine Art Zwischenbericht zum Stand der Dinge der Realisierung der Fondslösung für die ehemaligen Heimkinder in Berlin aus der Sicht des Fachbeirates zur Begleitung der Anlauf- und Beratungsstelle (ABeH) zu erstellen, habe ich als Vorsitzender dieses Beirates keinen Moment gezögert, dieser Bitte zu entsprechen.

Im Osten gehen die Lichter aus

Aus meiner Sicht ist die aktuelle Situation auch in Berlin überaus bedrückend und es ist unbedingt nötig, eine möglichst breite Öffentlichkeit über diese Entwicklung zu informieren, sodass ein lebhafter Diskurs zu dieser Thematik die politisch Verantwortlichen daran erinnert, was der Bundestagsbeschluss vom 07.07.2011 (Vgl. BT-Drs 17/6143) zur Rehabilitierung und "Entschädigung" ehemaliger Heimkinder im Kern bezweckte und wozu er die Akteurinnen und Akteure, die mit der Fondslösung für die ehemaligen Heimkinder beschäftigt sind, eben auch nach wie vor verpflichtet.

In diesem Beschluss wird eine überfraktionelle geistig-moralische Haltung verdeutlicht, die eine ernsthafte und damit weitgehende Legitimation aller Beteiligten für die jeweils relevante Handlungsebene in der Umsetzung bildet. Vereinfacht gesagt: Es gibt für die ABeH erhebliche Spielräume bei der Umsetzung und Interpretation der Fondslösung.

Denn die Errichtung des Fonds (zunächst West und analog dann Ost) für ehemalige Heimkinder war das Ergebnis einer politischen, wissenschaftlichen und von vielen Betroffenen auch individuell geführten Auseinandersetzung mit diesem Teil der Geschichte der Jugendhilfe, deren formaler Beginn mit dem Datum des 11.12.2006 festgelegt werden kann.

Im Jahr 2006 hat der Verein ehemaliger Heimkinder im Deutschen Bundestag eine Petition eingebracht, in der das Recht auf Einsichtnahme in die Heimakten gefordert wurde. Aus dieser Petition ging dann in Kooperation mit politischen Vertretern verschiedener Parteien nach langem Ringen 2009 der Runde Tisch Heimerziehung (RTH) hervor, der im Januar 2011 seinen Abschlussbericht zu dem in der Bundesrepublik Deutschland zwischen den späten 1940´er und 1970´er Jahren an Heimkindern begangenen Unrecht vorgelegt hat.

Der RTH war also im Wesentlichen das Ergebnis einer Initiative von ehemaligen Heimkindern, politischen Repräsentanten des Deutschen Bundestages und engagierten Wissenschaftlern, die sich seit Jahrzehnten mit dieser Thematik beschäftigen.

Die Errichtung der beiden Fonds folgte einer Empfehlung des RTH, wobei die Unterscheidung in einen Fonds West und einen Fonds Ost nicht nur eine chronologische ist, sondern vor allem eine inhaltliche. Und zwar weil die Einrichtung des Fonds West eine jeweils Drittel-Beteiligung an der empfohlenen Summe von 120 Millionen € durch Bund, Länder und Kirchen vorsah, während sich am Fonds Ost nur der Bund und die neuen Bundesländer sowie Berlin mit jeweils 50% an den aufgelegten 40 Millionen beteiligten. Die Kirchen wurden für den Fonds Ost nicht hinzugezogen, weil man davon ausging, dass es in der DDR keine konfessionellen Heime gab. Ein schwerwiegender Irrtum, wie sich im Laufe der Zeit herausstellte.

Eine völlig andere Frage betrifft die aufgelegten Summen im Hinblick auf die geschätzten Betroffenen. Während man im Westen von etwa 800.000 Menschen ausging, die in verschiedenen Heimen untergebracht waren, wurden als Kriterium für die Summe des Fonds Ost die Bevölkerungszahlen zugrundegelegt.

Die 40 Millionen Euro für den Fonds Ost entsprechen also einem Drittel der 120 Millionen Euro für den Fonds West. Anders gesagt: Die DDR hatte etwa ein Drittel weniger Bewohner als die Bundesrepublik Deutschland und deshalb folglich auch nur ein Drittel in der Summe für den Fonds zur Verfügung.

In diesem Zusammenhang ist die Komponente der zeitlich festgelegten Rahmenbedingungen für die Heimerziehung in den jeweiligen politischen Systemen zu bedenken, da die Heimerziehung in der alten Bundesrepublik die Jahre von 1949 bis 1975 als Rehabilitierungszeit vorsieht, während für die DDR die Kahre von 1949 bis 1990 als Limit festgelegt worden sind.

Es versteht sich von selbst, dass die Dauer der Fonds für die Antragsstellung auf finanzielle Leistungen entsprechend anders gestaltet worden sind. Für die Heimkinder West gilt als Antragszeitraum die Zeit vom 01.01.2012 bis 31.12.2014 und für die Heimkinder Ost die Zeit vom Juli 2012 bis 31.12. 2016. In dieser Konstruktion der Fondslösung Ost sind deshalb bereits viele Fehler angelegt, die zwangsläufig und damit auch frühzeitig erkennbar in ein Desaster führen mussten.

Realititätsschock: Der Fonds Ost entlässt „seine Kinder“

Während ich diesen Bericht verfasse, gibt es eine Fülle von Menschen, die seit vielen Monaten auf einen Beratungstermin in der ABeH warten, aber nunmehr völlig vergeblich hoffen, dass ihr erlebtes Leid, ihr erlebtes Unrecht, ihre verlorene Kindheit und meist auch ihre verlorene Jugend im Rahmen der Fondslösung für die ehemaligen Heimkinder eine, wenn auch späte, aber immerhin eine Rehabilitation erfährt, sodass die "Schuldfrage" aus der individuellen Verantwortung in eine gesellschaftliche übertragen werden könnte, was einen erheblichen Unterschied in der Selbstwahrnehmung der eigenen Geschichte ausmachen dürfte.

Denn mit diesem Übergang der Verantwortlichkeiten ist ja auch die Hoffnung verbunden, dass einige Folgen und Konsequenzen der Heimunterbringung zumindest partiell "entschädigt" werden und zu einer nicht unerheblichen Entlastung in diversen Alltagssituationen führen würden. Sei es in einer Ausgleichsleistung für erzwungene Arbeiten in den Heimen, für die keine Sozialabgaben geleistet wurden, sodass im Rahmen der Rentenersatzleistung zumindest für die ehemaligen Heimkinder, die nach dem 14. Lebensjahr in den Heimen gearbeitet haben, ein finanzieller Ausgleich eingerichtet worden ist, der eine finanzielle Entschädigung für jeden Monat der erzwungenen Arbeit vorsieht. Oder sei es, dass z. B. im Rahmen der materiellen Leistungen alle Folgen der Heimunterbringung kompensiert werden sollen, sei es auf der medizinischen, sozialen und/oder sozial-psychologischen Ebene.

Hier mag als Beispiel die Situation eines Menschen beschrieben sein, dem es als eine Folge der Heimunterbringung und der erlebten traumatisierenden Erfahrungen nicht gelungen ist, eine angemessene Wohnsituation zu gestalten. Hier sieht der Fonds finanzielle Leistungen vor, die dem Betroffenen zumindest als Anschub helfen könnten, in eine menschenwürdige Wohnsituation zu gelangen.

Soweit, so gut.

Warum aber warten nun aktuell viele Menschen vergeblich auf finanzielle Leistungen bzw. Entschädigungen?

Die Antwort ist einfach und skandalös zugleich:  Dem Fonds für die ehemaligen Heimkinder Ost ist das Geld ausgegangen, sodass die Anlauf- und Beratungsstellen, die mit ehemaligen Heimkinder aus der DDR beschäftigt sind, ab dem 01.12.2013 keine neuen Vereinbarungen mit den Betroffenen mehr abschließen dürfen. Das heißt: beraten ja, Vereinbarung nein.