Der Griff nach der Wissenschaft
Diese Geisteshaltung erhebt den Anspruch, gleichberechtigt auf Unis unterrichtet zu werden. Ob Rudolf Steiner seine Anthroposophie ohne auch nur den Hauch von Ironie zur "Geisteswissenschaft" deklarierte oder die Homöopathen unter der Leitung einer Wunderheilerin, pardon: Heilpraktikerin, in Traunstein einen "Master of Science" verleihen wollen – stets geht es darum, sich die Anerkennung der Wissenschaft zu erzwingen. Zum Preis der Entwertung jeglicher wissenschaftlicher Ausbildung.
Das ist mittlerweile zur realen Gefahr geworden. Hogwarts an der Oder, das könnte bald der Regelfall an Unis werden.
In den alternativen Milieus der Mittelschicht stößt das auf breite Zustimmung. Selbst bei denen, die die abstrusen Konzepte der jeweiligen Pseudowissenschaft nicht anerkennen. Man müsse ja offen sein. Und die Wissenschaft wisse schließlich auch nicht alles. Es gelte ja die Meinungsfreiheit.
Nur, dass hier niemand irgendjemandem das Recht auf eine eigene Meinung abspricht. Nur das Recht auf eigene Fakten.
Masern als spirituelle Bereicherung
Da kann es schnell passieren, dass selbsternannte Heilbringer mit Doktortitel schlicht bestreiten, dass Impfungen wirken. Die bestreiten, dass Masern eine tödliche Krankheit sind, die allein im 20. Jahrhundert Millionen Menschen dahin gerafft haben. Die zum Teil längst widerlegte Mythen über schwere Impfschäden verbreiten, wie Johann Loibner gegenüber dem ORF NÖ.
Wenn das nichts nützt, bemühen "Ärztinnen" wie Christine Laschkolnig eine "spirituelle Sicht". Zitat: "Krankheit und Gesundheit sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Krankheit ist eine Ausdrucksform des Körpers. Psychische Probleme können sich oft nur über körperliche Symptome äußern. Die Idee, Krankheit auszurotten, ist nicht unähnlich der Idee, die Menschheit auszurotten.
Kinderkrankheiten sind die einzige Möglichkeit für Kinder, sich loszulösen sowohl von körperlichen als auch psychischen Mustern, mit denen sie hier in diese Welt geboren wurden. Je mehr sie an Belastung von ihren Eltern, Großeltern und Ahnen mitbringen, umso wichtiger ist es, sich daraus lösen zu können."
Und: "Die Gehirnnerven, der Ursprung des gesamten Nervensystems, sind noch schutzlos - ohne Ummantelung - einem Rohr gleich, das noch keine Außenisolierung hat. Die Keime können gar nichts anderes tun, als sich an die Gehirnnerven anzulagern und behindern die Entwicklung der Nervenscheiden und damit die Gehirnentwicklung."
Spätestens hier wird es grob fahrlässig. Gegen die Ärztin wurde vor kurzem eine Beschwerde bei der Patientenanwaltschaft der Stadt Wien eingereicht, die an die Ärztekammer weitergeleitet wurde.
Die alternativen Milieus der Mittelschicht versorgen diese Ärztinnen und Ärzte mit ausreichend zahlender Kundschaft.
Impfverweigerung gefährdet auch andere
Man könnte es zynisch als evolutionären Beitrag verstehen, wenn diese Leute ihre Kinder nicht impfen lassen und gefährlichen Krankheiten wie Masern oder Polio aussetzen. Und sich selbst obendrein.
Allein, Viren nehmen keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten oder sozialen Zugehörigkeiten potentieller Wirte. Sie befallen, wen immer sie können. Auch das Baby der Nachbarsfamilie, das noch zu jung ist um geimpft zu werden. Oder eine Ärztin, die wegen Problemen mit dem Immunsystem nie geimpft werden konnte. Oder einen Sanitäter, der zu dem zwei oder drei Prozent der Bevölkerung gehört, denen die Impfung keinen Immunschutz gebracht hat.
Wären alle Kinder geimpft, würden diese Menschen von der so genannten Herdenimmunität profitieren. Die Viren finden kaum mehr Wirte und können sich nicht mehr verbreiten, bevor sie absterben. So hat man die Pocken ausgerottet. So hätte man die Masern ausrotten können. Wenn nicht ganze Milieus, auf das vermeintliche Recht auf eigene Fakten pochend, sich verweigert hätten.
Gefahr auch für demokratischen Prozess
Die jüngste Masernepidemie zeigt, wie egoistisch und verantwortungslos diese Haltung ist. Dass die dahinter stehende Geisteshaltung nicht nur ihre Vertreter betrifft. Sondern die gesamte Gesellschaft gefährdet. Sei es in Form von Epidemien, sei es in Form einer Generalattacke auf die Wissenschaft, sei es in Form der Forderung, dass letztlich totalitäre esoterische Weltbilder gesellschaftlich akzeptabel sein müssen. Eine Bedrohung für den demokratischen Prozess. Diese Gefahr kommt aus der Mitte unserer Gesellschaft.