Man war unter sich

DRESDEN. (hpd) Derzeit findet im Hygienemuseum Dresden eine Vortragsreihe zum Thema “Religion und Migration” als erster Teil des Projektes “Das neue Deutschland - Migration und Vielfalt” statt. Dieses Projekt ist in Zusammenarbeit des Hygienemuseums mit dem Kathedral-Forum Dresden entstanden. Insgesamt umfasst es neun Vorträge und eine Ausstellung, die bis 12. Oktober 2014 zu sehen sein wird.

 

Der erster Vortrag stand unter dem Thema “Urbanität und Religiosität - Wie passt das zusammen?”. Eingeladen waren dazu Prof. Dr. Werner Schiffauer (Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) und Prof. Dr. Knut Wenzel (Professor für Systematische Theologie, Fundamentaltheologie und Dogmatik am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt a.M.). Die beiden Moderatoren Dr. Susanne Illmer (Kulturwissenschaftlerin an der TU Dresden) und der Jesuitenpater Clemens Maaß, (Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen) konnten den beiden Vortragenden auf Augenhöhe begegnen und man war unter sich. Kontroversen waren somit nicht zu erwarten. Es sollte um die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung von Religion für den Menschen in fremder Umgebung gehen. Wie kommen Migranten mit ihren gänzlich anderen Religionspraktiken und Glaubensvorstellungen in der westlichen Welt zurecht?

Migranten von Großstädten beeinflusst

Im Vortrag von Prof. Schiffauer wurde etwas die Historie betrachtet. Seiner Meinung nach, gab es ab 1973 eine Wandlung. Bis dahin seien die Migranten, die bis dahin einen festen Job hatten, von den meist säkularen Großstädten beeinflusst worden. Religion und Religiosität wäre zu dieser Zeit weniger bedeutsam für Zuwanderer gewesen. Die Sinnsuche in der neuen Arbeitswelt hätte größere Anziehungskraft gehabt als Religion. Erst mit der Krise des Kapitalismus und dem Beginn des Neoliberalismus wäre die Besinnung auf andere Werte gekommen.

Die Migranten suchten nach Halt, fanden dabei Gleichgesinnte und entwickelten ihre eigene Religion, eine sogenannte “wilde Religion”, die nichts mit den verfassten und etablierten Religionen zu tun hatte. Wobei Schiffauer immer wieder von Großstädten der “3. Welt” sprach, wie z. B. Istanbul. Die Arbeitsmigration hatte sich verändert. Während in den 60er und 70er Jahren die Zuwanderer in festen Arbeitsverhältnissen standen und in Parteien und Gewerkschaften organisiert waren, änderte sich dies plötzlich. Migranten waren fast ausschließlich in prekären Beschäftigungen zu finden, damit waren die alten Strukturen nicht mehr verfügbar und es sprangen dafür religiöse Organisationen ein.

Die Religion bietet Zusammenhalt

Ab den 1980er Jahren verfielen zunehmend die Fortschrittsideen der Nachkriegszeit. Der Neoliberalismus beschleunigte den ökonomischen Wandel. Die realen “innerweltlichen” Referenzpunkte verschwanden und machten Platz für Transzendentales jeglicher Art. Diese neuen, unterschiedlichen Religionen waren sich untereinander sehr ähnlich: Alle beinhalteten ein Heilsversprechen, verlangten eine asketische Grundhaltung und Selbstdisziplin und waren kommunitaristisch geprägt (gemeinsam sind wir stark!). Damit lösten sich die Migranten zunehmend und bildeten eine Parallelgesellschaft. Die nachfolgende Generation war wiederum mehr sozialisiert, fanden oft ihren Platz in der Gesellschaft und brachten politischen Einfluss mit. Sie verbürgerlichten und waren geprägt vom Institutionalismus. Damit bildeten sie in den folgenden Jahren den Kern der bürgerlichen Religionen und sind inzwischen Teil des Establishments.

Städtische Religiosität

Im Vortrag von Prof. Wenzel ging es darum, wie die Religion den Aufbruch in die Urbanität schaffte. Ausgangspunkt des Christentums sind die kleinen Provinzen Judäa und Galiläa, winzige Dörfer. Für die doch rasend schnelle Verbreitung sorgte die Mission von Paulus. Mit ihm erwies sich die Religion als weltläufig, da er sie vom Kult des Tempels und der Pharisäer löste. Damit konnte Religion an jedem beliebigen Ort praktiziert werden, man konnte sie mitnehmen. Die Hinwendung zum Nächsten war die religiöse Botschaft. Einziges “Gesetz”, welches auf den Weg gegeben wurde, war die radikale Liebe zum anderen Menschen und die Anerkennung der Persönlichkeit.

Mit dieser von allen Bedingungen entkoppelten prinzipiellen Anerkennung des Menschen war der Weg frei für die Wanderung in die Städte. Man konnte sich überall niederlassen, war nirgendwo fremd, fand überall Gleichgesinnte und es bildete sich schnell eine Kultur heraus. Der Mensch hatte damit mehr Bewegungsfreiheit und konnte sein Leben selbstbestimmt führen. Die städtische Religiosität unterscheide sich von den etablierten Religionen. Dass man sich selbst um sein Seelenheil kümmert und die Botschaft selbst verbreitet, wäre von den Kirchen nicht gewollt. Es entstehen unkoordinierbare Religionen aus der Vielfalt der Erfahrungsmöglichkeiten und die Menschen finden in den verschiedenen Religionen Halt. In den Dörfern sei das Leben oft durch kirchliche Feste und religiöse Gepflogenheiten über das ganze Jahr geprägt, in den Städten gehe man nur in die Kirche/Moschee, wenn man will, wenn man einsam sei oder Halt und Bindung sucht.

Christen sind gegenüber dem Islam arrogant

In der sich anschließenden Podiumsdiskussion wurden noch einmal einige Aspekte beleuchtet und zusammengefasst. Wichtigstes Detail war der Vorwurf, dass gegenwärtig Christen sehr arrogant den Islam von außen bewerten und damit mehr Zündstoff und Zwist in die islamistischen Strömungen bringen. Es könne nicht angehen, dass die Mehrheitsgesellschaft festlegt, wie der Islam aus ihrer Sicht zu sein hat. Damit vergifte sie die innergesellschaftliche islamische Diskussion.

In den beiden Vorträgen wurde davon ausgegangen, dass die Städte in den 1950er Jahren säkular gewesen seien und erst seit den 70er Jahren eine verstärkte Hinwendung zu Religionen zu sehen sei. Die statistischen Zahlen sagen jedoch das Gegenteil, zumindest was die Zugehörigkeit zu einer Religion betrifft. Während z. B. in Frankfurt um 1900 noch ca. 90 Prozent der Bevölkerung evangelisch oder katholisch war, sind es im Jahr 2003 nur noch knapp 50 Prozent, in Hamburg sind 1970 noch ca. 85 Prozent evangelisch oder katholisch, (andere Religionen werden wegen zu kleiner Zahlen gar nicht erfasst), 2003 sind es nur noch 43 Prozent. Als drittes Beispiel Düsseldorf: 1950 sind 91 Prozent der Bevölkerung katholisch oder evangelisch, 0,05 Prozent jüdisch und ca. 9 Prozent Sonstige, also auch ohne Religion. 2009 sind dies 53 Prozent Katholiken und Evangelische und 1 Prozent Juden.

Merkwürdige Schlussfolgerungen

In den Vorträgen entstand der Eindruck, dass es in den Städten früher keine Religionen gegeben hätte und erst mit den Migranten eine religiöse Struktur in den Städten entstanden sei. Wobei schon auf den Unterschied von Religion und Religiosität aufmerksam gemacht wurde. Religiosität lässt sich jedoch kaum bestimmen bei der Vielfalt der Möglichkeiten, die sich den Menschen besonders in Städten bieten. Hier wurde wieder einmal unterschwellig das Erstarken der Religionen ins Feld geführt, wenn auch manche religiöse “Abart” kaum als Religion betrachtet werden kann.

Es gab keinen Zweifel darüber, dass sich Religion und Religiosität an die äußeren Bedingungen anpassen können. Hier in Europa kann sich jeder seine Religion “zurechtzimmern”, die er braucht. Menschen werden von ihrem Umfeld geprägt und da ist Religion nur ein Teilchen davon. Wer diese Religiosität braucht, kann diese in den Städten genauso finden wie in ländlichen Gegenden. Während sich die Kirchen noch in den 50ern und 60ern sträubten, anzuerkennen, dass Menschen sich nicht den Geboten und Gesetzen komplett unterordnen wollten, haben sie inzwischen durch sinkende Mitgliederzahlen gelernt, auch mit weniger Unterordnung zufrieden zu sein - Hauptsache noch ein bisschen religiös.

Elke Schäfer