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Mein Leben gehört mir!

Zwischen 1997 und 2012 haben alles in allem 673 Patienten vom assistierten Suizid Gebrauch gemacht. Das sind jedes Jahr nur etwa 45 Menschen. Das Durchschnittsalter betrug 71 Jahre. Über 80 Prozent der Patienten litten an Krebs im Endstadium, andere – wie Julia im Film – an degenerativen Erkrankungen, zumeist an Amyotropher Lateralsklerose oder kurz ALS. Zwischen der Einnahme des Medikaments “Nembutal” und dem Eintreten des Todes vergingen durchschnittlich etwa 25 Minuten.

Befragt, warum sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen, antworteten 91 Prozent, dass sie den Verlust ihrer Selbständigkeit als unerträglich empfinden; 89 Prozent sagten, sie wollen sterben, weil sie nicht mehr in der Lage sind, diejenigen Dinge zu tun, die ihr Leben lebenswert machten; und 82 Prozent meinten – wie Ramón Sampedro –, dass sie ihren ausweglosen Zustand und ihr sinnloses Leiden als “würdelos” betrachten.

Bemerkenswert ist, dass sich zwischen 1997 und 2012 zwar 673 Menschen mit Hilfe von Nembutal das Leben nahmen, eigentlich aber 1.050 Patienten ein Rezept für dieses Medikament ausgestellt worden ist. Das bedeutet, rund ein Drittel der Patienten, die sich um ein Mittel bemühen, mit dessen Hilfe sie ihrem Leiden ein Ende setzen können, benützen es letztlich gar nicht – sie sterben eines natürlichen Todes, weil sie die Gewissheit haben, dass es, falls ihre Lage vollkommen unerträglich werden sollte, jederzeit einen Ausweg gibt.

Interessant ist auch, dass 586 der 673 Patienten, also rund 90 Prozent, zunächst das Angebot annahmen, in ein Hospiz zu gehen, sich letztlich aber doch dafür entschieden, lieber zu Hause zu sterben. Die meisten von ihnen haben eine Abschieds-Party gegeben, in der sie sich von ihrer Familie und ihren Freunden verabschiedeten und anschließend das Glas mit dem Nembutal leerten. Wie dies zeigt, ist die Betreuung in einem Hospiz zwar ein durchaus willkommenes Angebot an Sterbende, letztlich wollen die meisten Menschen aber doch lieber selbstbestimmt zu Hause sterben.

Für einen Spielfilm ist “Das Meer in mir” ungewöhnlich argumentativ. Dies beginnt schon in der dritten Szene, als Ramón von seiner Anwältin Julia befragt, warum er sterben möchte, antwortet: “Für mich ist ein Leben in diesem Zustand ein unwürdiges Leben. Aber ich verstehe, dass andere Tetraplegiker sich beleidigt fühlen könnten, wenn ich sage, dass so ein Leben unwürdig sei. Ich maße mir kein Urteil an. Nein, wer bin ich denn, jemanden zu verurteilen, der leben will. Und deshalb verurteile bitte auch niemand mich.”

In dieser Szene kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie bewusst an die Behindertenorganisationen gerichtet ist und deren bekanntem Einwand zuvorkommen soll, wonach die Sterbehilfe verboten bleiben müsse, weil ihre Legalisierung die Botschaft verbreite, dass das Leben von Behinderten “nicht lebenswert” sei. Wie Ramón jedoch deutlich macht, geht es bei der Sterbehilfe aber gar nicht darum, ein Urteil über den Wert des Lebens anderer zu fällen, sondern lediglich darum, aus dem Leben scheiden zu dürfen, wenn man sein eigenes Leben nicht mehr als lebenswert erachtet.

Nur zwei Szenen später scheint der Film erneut einem weit verbreiteten Argument zuvorkommen zu wollen. In einem etwas bemüht wirkenden Dialog zwischen Ramón und seinem 17jährigen Neffen Javi ist plötzlich vom Großvater die Rede, der für die Familie angeblich nur noch eine Last darstelle. In seiner Naivität sagt Javi: “Wir brauchen ihn nicht. Er stirbt bloß.” – Vollkommen blind dafür, dass das, was er gerade vom Großvater gesagt hat, genauso gut von Ramón gesagt werden könnte. Ramón lacht über die jugendliche Einfalt des Neffen, fügt dann aber in ernstem Ton hinzu: “Eines Tages, ich weiß nicht wann, aber eines Tages wirst du so bitter bereuen, was du eben gesagt hast, dass du am liebsten in der Erde versinken würdest.”

Auch mit dieser kurzen Szene soll einem häufigen Einwand gegen die Sterbehilfe begegnet werden: Im Kampf um die Legalisierung der Sterbehilfe geht es nicht darum, ein “sozial verträgliches Ableben von Ballastexistenzen” zu ermöglichen – sich also, wie die Nazis sagten, der "unnützen Esser“ zu entledigen –, sondern darum, das Selbstbestimmungsrecht eines jeden einzelnen Menschen zu respektieren: Nicht der Staat, sondern der Bürger soll über sein eigenes Leben und sein eigenes Sterben entscheiden dürfen.

 

Trailer:


Das Meer in mir (Mar adentro, Spanien 2004) Regie: Alejandro Amenábar, Darsteller u.a.: Javier Bardem, Belén Rueda, Lola Dueñas. Der Film war für 61 Preise nominiert und gewann 30, darunter einen Oscar.