Freemee - eine Horrorvision von Marc Elsberg

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BERLIN. (hpd) Deutsche Medien berichten seit einigen Tagen über manipulierte Newsfeeds und “Psycho-Experimente” bei Facebook. Offenbar führte Facebook im Januar 2012 eine Woche lang ein Experiment bei 689.003 englischsprachigen Facebook-Nutzern durch. Ergebnis des Experiments: “Emotionale Ansteckung” funktioniert auch im virtuellen Raum. Ein ähnlich gelagertes Experiment ist Thema des kürzlich erschienenen Romans “Zero” von Marc Elsberg.

Bei Zero geht es um eine fiktive neue Internetplattform mit dem Namen “Freemee”. Freemee sammelt und analysiert exzessiv Daten. Sogenannte “ActApps” geben Freemee Benutzer individuelle Ratschläge zur Bewältigung ihres Alltags, zum Erreichen persönlicher Ziele und vor allem zur Steigerung des Rankings bei “ManRank”.

“ManRank” ist eine Rangliste aller bekannten Internetuser weltweit, analog zu den Webseiten Rankings. Die Rangliste ist öffentlich und bestimmt den vermeintlichen sozialen Wert eines Menschen. Die Kriterien für die Bewertung der Menschen ist dynamisch, analog zu den Google Bewertungskriterien für Webseiten. Hauptmotivation der Freemee User ist es, ihre Position im ManRank zu verbessern. Für diesen Zweck geben die Freemee Nutzer ihre persönlichen Daten freiwillig ab.

Neben dem dadurch erhöhten Status bei “ManRank” erhält der Nutzer für seinen Daten-Exhibitionismus auch Punkte und Geld. Damit kann er dann Equipment kaufen (Körpersensoren, Datenbrillen), um noch mehr Daten von sich an Freemee zu liefern. Freemee ist daher vor allem bei Jugendlichen angesagt und beeinflusst direkt deren Leben. Mit vermeidlich positiven (die Tochter der Heldin mutiert vom Gothic Freak zur angepassten Streberin) und negativen Begleiterscheinungen (Tod von Menschen). Diese Beeinflussungsmöglichkeiten wecken Begehrlichkeiten von interessierter Seite.

Ich will an dieser Stelle nicht ausführlicher auf das Buch eingehen. Ich erwähne das Buch, da es in unterhaltsamer und sehr anschaulicher Weise eine Problematik aufgreift, mit der wir in den nächsten Jahren verstärkt konfrontiert werden. Als IT-Fachmann wirken natürlich manche Details in dem Buch auf mich albern, stark übertrieben und unrealistisch. Aber so geht es auch Ärzten, die Arztserien, oder Polizisten, die Krimis im Fernsehen sehen. Ich hatte beim Lesen des Buches auf jeden Fall mehrfach intensive Déjà-vu Erlebnisse.

Gerade die Datenbrille als Inkarnation des Bösen hat es Marc Elsberg angetan. Mir fiel da gleich ein Prominenter aus unser Szene ein, der sich im letzten Jahr stolz bei Facebook mit einem Prototyp dieser Brille ablichten lies.

Da wären dann Internet Aktivisten aus dem säkular, humanistischen Umfeld, die einerseits durchaus kritisch bei Fragen der Internetüberwachung sind, andererseits aber ihr gesamtes Leben und die damit verbundenen Daten freiwillig in die “Cloud” ablegen. Inklusive ihren Passwörter. Spätestens wer seine Passswörter bei NSA & Co ablegt, braucht sich über eine Überwachung durch selbige keine Sorgen mehr zu machen. Neben eigenen Daten legen selbige auch die Daten anderer dort gleich mit ab, ohne das diejenigen sich wehren können. Und weil es ja so einfach, kostenlos und bequem ist, wollen einige Protagonisten von Facebook, Google und Co auch gleich die gesamte Kommunikation der säkularen Szene dorthin exklusiv auslagern. Alle anderen sollten sich dort gefälligst anmelden. Wer dem nicht uneingeschränkt folgt “ist von Vorgestern”, “Paranoid” oder hat den Trend zu “Post Privacy” verpasst. So geht es mir manchmal ähnlich wie der Heldin Cynthia Bonsant in Elsbergs Roman Zero.

Das Kommunikationsverhalten der Menschen hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Wer geht schon gerne ohne sein Smartphone aus dem Haus (mich eingeschlossen). Wie viele Jugendliche hängen z.B in der U-Bahn als Smartphone-Zombies an ihren Apps? Fehlen eigentlich nur noch die “ActApps” und Elsbergs Horror-Visionen von totaler Überwachung und Fernsteuerung von Menschen sind bereits heute real.

Man kann es sich einfach machen. Auf der einen Seite gibt es die bösen “Datenkraken”, auf der anderen die missbrauchten, naiven Internetuser. Aber so einfach ist das nicht.

Facebook, Google und Co bieten viele wertvolle Dienstleistungen für alle Internetuser kostenlos an. Viele dieser Dienste helfen auch uns Säkularen, uns in der Welt Gehör zu verschaffen und effektiv miteinander zu kommunizieren. Es hilft uns in einer Gesellschaft, die von Religions-Lobbyisten in Politik und Medien dominiert und reglementiert wird, Limitierungen zu überwinden. Gerade über soziale Netzwerke finden und organisieren sich Säkulare, Humanisten, Naturalisten - über regionale, kulturelle und soziale Grenzen hinweg.

Facebook, Google und Co. haben kein originäres Interesse daran, ihre Kunden auszuspionieren. Sie wollen wie jedes andere Unternehmen Geld verdienen und Gewinne für ihre Aktionäre erwirtschaften. Die von den Internetusern genutzten Internetdienste benötigen eine ausgefeilte Server- und Netzwerkinfrastruktur inklusive der Mitarbeiter, die diese betreuen. Das kostet Geld, viel Geld. Zumal Internetnutzer sehr intolerant sind, wenn Internet Dienste nicht rund um die Uhr in gewohnter “Performance” zur Verfügung stehen. Da bleiben dann als Finanzierung nur die Daten der Nutzer und deren Verwertung für passgenaue Werbung.

Oder ein Sponsoring durch Big Brother. Sicher wollen die wenigsten Internetnutzer ihre Daten direkt bei NSA und Verfassungsschutz hosten. Da sind dann profitorientierte Unternehmen doch “das geringere Übel”. Dennoch, je mächtiger diese global agierenden Unternehmen werden, je mehr Nutzer diese Unternehmen direkt und indirekt beeinflussen können, desto höher ist das Missbrauchspotential. Und vor allem wecken diese Missbrauchsmöglichkeiten Begehrlichkeiten von interessierter Seite. Und genau an dieser Stelle können dann die potentiellen Risiken den Nutzen nicht mehr aufwiegen.

Die Verantwortung hat in meinen Augen primär der mündige Internetnutzer.
Gerade durch die Gratis-Kultur im Internet werden Anbieter von Internetdienstleistungen verdrängt, deren Geschäftsmodel nicht auf die Verwertung der persönlichen Daten ihrer Nutzer basiert. Natürlich ist auch die Politik gefordert. Monopole müssen verhindert werden, damit ein Wettbewerb mit Innovationen möglich bleibt. Andererseits ist die Kritik an den “Datenkraken” aus Politikermund auch darauf zurückzuführen, das man missliebige Meinungen nicht mehr wirksam unterdrücken kann. Solche Kontrollverluste quälen nicht nur Politiker wie Erdogan, sondern sicher auch einige Politiker bei uns in Deutschland. Und so ist die Kritik an den “Datenkraken” auch manchmal pure Heuchelei, die der mündige Internetnutzer nicht unreflektiert 1:1 übernehmen sollte.