Das Große Sommerinterview

Freidenker und Freidenken in der Schweiz

Wenn ich mir ansehe, was in den Städten ab 1970 passiert, dann wird deutlich, dass der Anteil der Konfessionslosen in den Städten höher ist, als in der gesamten Schweiz. Es gibt Gipfelpunkte in Genf 23 % und Basel 31 %. Es gab einen alten Grundsatz, aus dem Mittelalter, als es um Leibeigenschaft ging, der hieß: „Stadtluft macht frei!“

Reta: Das funktioniert immer noch. Das einfachste ist, wenn junge Leute in die Stadt zum Studieren gehen, dann haben sie die Möglichkeit aus der Kirche auszutreten, ohne dass dies im Heimatdorf bekannt wird.

 

Wird dies nicht zurückgemeldet!?

Reta: Nein, wenn sie in Zürich abgemeldet sind, gehören sie zur Zürcher Staatskirche, dann wird das nicht weiter gemeldet.

 

Ich habe Beispiele von Österreichern gehört, drei Frauen aus einem Verlag wollten aus der Kirche austreten, aber wenn sie dies getan hätten, würde es im Heimatdorf sofort von der Kanzel verkündet werden. Und um die Großmütter und Eltern zu verschonen, bleiben sie lieber formal in der Kirche.

Valentin: Das ist auch von Kanton zu Kanton verschieden. Im Wallis ist das Austreten nicht leicht. Ich nenne das Wallis gern scherzhaft Vati-kan-ton. Wir hatten den Fall einer Freidenkerin, bei welcher der Austritt bis zur vorliegenden Bestätigung der Pfarrei mehr als ein Jahr dauerte. Sie musste mehrere Briefe schreiben, telefonisch nachfragen usw. Und wir als Sektion der FVS mussten behilflich sein und Druck machen. Schließlich haben wir sogar die Medien darüber informiert.

Es gibt schon Hürden, die aufgebaut werden, wie ein Zaun, weil man die Schäfchen nicht gehen lassen will. Andere Kantone machen dies viel sauberer. Es ist eben teilweise wirklich ein Problem.

Reta: Es sind nicht eigentlich die Kantone, sondern die kantonalen, staatskirchenrechtlich verfassten Kirchgemeinden oder die Bistümer.

Valentin: Die Katholiken lassen ihre Schäfchen weniger gern ziehen. Es ist bei uns, wie sicher auch anderswo, so, dass es sich ein selbständiger Schreinermeister sehr gut überlegen muss, ob er austritt. Denn in einem kleineren Dorf wird es doch bekannt, dass er nicht mehr dabei ist. Und dann fehlen eben nicht nur die Renovationsaufträge der Kirchen selber, sondern auch die privaten Dienstleistungen für die Leute im Dorf. Und aus diesen wirtschaftlichen Gründen sind sicher ganz viele Karteileichen in der Kirchenkartei begraben.

Das wird besser. Die Leute kaufen jetzt vermehrt einfach Dienstleistungen ein und nicht mehr nur, weil ein Firmeninhaber in derselben Kirche ist. Aber das dauert.

 

In 26 Kantonen gibt es 13 Sektionen der Freidenker. Korrespondiert dies auch mit dem Schwerpunkt in den Städten? Oder sind zwei Kantone in einer Sektion zusammengefasst oder gibt es Gebiete, die so schlecht zu organisieren sind, dass man dort nur eine Sektion bildet?

Valentin: Es gibt beides. Es gibt Kantone wo es mehr als eine Sektionen gibt. Die sind dezentral entstanden und die „Gebietsabtrennungen” sind auch nicht so genau definiert. Im Kanton Zürich gibt es die Sektionen Zürich und Winterthur und die Leute werden Mitglied bei der Sektion, wo sie sich tagsüber häufiger aufhalten oder wo sie eher zu Abendveranstaltungen hinkommen.
Es gibt leider auch weiße Flecken auf der Freidenker-Karte. Gebiete, wo eine Sektion versucht, zuständig zu sein, die aber tatsächlich nur sehr wenig aktive Mitglieder hat, wo es kaum lokale Aktivitäten gibt.

Andreas: Wir haben die beste Vertretung in den urbanen Räumen – die Sektionen in Zürich, Basel und Bern sind mit Abstand die stärksten Sektionen und dort dominieren auch die Mitglieder aus städtischen Räumen.
Dafür gibt’s sicher zwei Gründe: Einerseits ziehen die Städte säkular denkende Leute eher an, andererseits ist es einfacher, in dichtem urbanen Raum Veranstaltungen zu organisieren, die dann als Gegenwert einer Mitgliedschaft aufgerechnet werden. Und in den ländlichen Kantonen, wo dies schwieriger ist, müssen wir eingestehen, dass wir weniger bieten können. Da ist vielleicht der Anreiz, Mitglied zu werden, auch der Beitrag, um die Aktivitäten mitzufinanzieren etwas kleiner.

Valentin: Auch da gibt’s noch was zu ergänzen. Es gibt Kantone wo der „Leidensdruck“ höher ist. Die Walliser Mitglieder bei den Freidenkern sind vielleicht mehr sensibilisiert, weil die Kirche in so viele Bereiche des Lebens hineinspielt. Dagegen sagt ein Zürcher Stadt-Freidenker – wenn es so was typischerweise gibt – wohl eher, ich will Gleichgesinnte treffen, ich will Abendveranstaltungen. Der ist vielleicht viel humanistischer drauf. Es gibt Kantone, wo es leichter fällt sich zu engagieren.
Wir haben im Wallis auch nicht viele Mitglieder und es gibt noch viel zu tun. In Basel auch, aber es lebt sich als Freidenker schon ganz angenehm dort.

 

Basel ist ein Phänomen. In Basel gibt es die höchste Quote an Konfessionsfreien. Gibt es einen von außen benennbaren Grund? Demnach wäre in Basel der „Leidensdruck“ am geringsten. Gleichzeitig ist ja ein größeres Angebote in den Großstädten an anderen Veranstaltungen, gegen die man dann konkurrieren muss. Wie kommt das Phänomen Basel zustande?

Andreas: Basel hat eine besondere Geschichte. Es ist die einzige Stadt in der Schweiz, in der es eine sehr lange Uni-Tradition (seit 1460) gibt, die Universität in Zürich ist dagegen erst 180 Jahre alt. Aus Sicht des Vereins gibt es noch eine Besonderheit. Über Jahrzehnte gab es Sektionen, weil es mal eine Rechtsabspaltung von einer eher links ausgerichteten Sektion gab. Die Wiedervereinigung kam erst dieses Jahr nach sehr langer Vorbereitungszeit zustande. Mindestens während der Zeit, als sich beide Sektionen gegenüber der anderen positionieren wollten, waren sie sehr aktiv. Dass die Basler so einen relativ hohen Organisationsgrad haben, hat also vielleicht sowohl mit der Stadtgeschichte wie mit der lokalen Freidenker-Geschichte zu tun.

 

Konfessionsfrei zu sein heißt ja nicht, Freidenker zu sein. Das Problem, welches ich auch in Deutschland sehe, ist, dass viele Säkulare, die ich kenne, sagen: Warum soll ich mich organisieren. Ich habe doch gerade das Brett vorm Kopf an die Kirche abgegeben. Warum soll ich mir ein neues drauf legen. Das Prinzip dass sich Freidenker prinzipiell nicht organisieren wollen und eher sagen, das brauche ich nicht, ich bin selbstverantwortlich, bin selbstbestimmt, ist ein Problem in der Organisationsstruktur. Wir leben in einer Verbändedemokratie, wo nur die Verbände gehört werden. Wenn man sich nicht organisiert, hat man im politischen Raum weniger Darstellungsmöglichkeiten.

Valentin: Man muss ja verschiedene Dinge abzudecken versuchen. Man sollte möglichst positiv sein. Die Freidenker sind auch nicht einfach nur kirchenkritisch und antiklerikal. Der Humanismus ist ein wichtiger Punkt, auch dass wir Dienstleistungen für unsere Mitglieder anbieten, wie beispielsweise weltliche Rituale. Die sind inzwischen sehr gefragt. Und man muss vieles unter einen Hut bringen und den Leuten aufzuzeigen versuchen, warum es sich lohnt, dabei zu sein. Und das fällt eben mitunter schwer, weil es wie mit einer Herde Katzen ist, wenn man Freidenker, Humanisten, Atheisten hat. Es sind eben alles Einzelgänger. Die meisten sehen aber dann doch ein, dass es notwendig ist, sich irgendwie zu organisieren, mit einer Stimme zu sprechen und gehört zu werden. Aber es liegt an uns, dass wir den Leuten begreiflich machen, was für einen Mehrwert es für sie darstellt, wenn sie einen finanziellen Beitrag beisteuern oder sich aktiv einbringen.

Beispielbild