Reta: Die explizit religiösen Betriebe sind Privatbetriebe und die bekommen zum Teil Zuschüsse, beispielsweise für Schulen. Traditionell haben die Kirchen ihre sozialen Einrichtungen selber finanziert. Aber da muss man genauer hinschauen und es ist mittlerweile so wie in Deutschland, dass die kirchlichen Einrichtungen nur in geringen Maße aus Kirchenmitteln finanziert werden. Ich habe es einmal für die beiden großen Hilfswerke angeschaut, das HEKS der Evangelischen Kirchen und die katholische Caritas, und bin dort auch auf die drei bis fünf Prozent gekommen, große Anteile sind Steuergelder: kommunale, kantonale und Bundesgelder.
Andreas: Wobei man aber noch zu Gunsten der Schweizer Caritas sagen muss, dass sie nicht in die katholischen Strukturen eingebunden sind. Die Caritas in Deutschland ist ein Werk der Diözesen, die dort das sagen haben. Die Caritas Schweiz hat einen Stiftungsrat und eine Geschäftsführung, die sehr stark von kirchlichen Strukturen losgelöst ist. Die sind erheblich säkularer unterwegs als die Caritas Deutschland.
Reta: Na ja. In ihrem Selbstporträt bezeichnet die Caritas Schweiz sich zwar als „eigenständiges katholisches Hilfswerk”, aber auch „tätig im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz”.
Ich habe vor einiger Zeit mit Conny Reuter gesprochen, dem Generalsekretär der europäischen SOLIDAR, dem Dachverband der Wohlfahrtsverbände von Sozialisten und Sozialdemokraten in der EU, und er ist auch Präsident der europäischen Social Platform aller NGOs in diesem Bereich. In diesem Netzwerk sind auch kirchliche Organisationen Mitglied und Vizepräsidentin der Social Platform ist die Schottin Heather Roy, die Generalsekretärin der Eurodiaconia. Es geht generell um eine sachgerechte politikbezogene Zusammenarbeit, egal aus welcher weltanschaulichen Begründung. Auf europäischer Ebene ist die Frage „Konfession / Konfessionslose“ kein Thema. Es wird für die Sozialpolitik eine breite Allianz gebraucht und die wird auch mit den konfessionellen Organisationen erreicht. Die deutsche Vor- und Aussortierung nach religiösem Bekenntnis ist auf der europäischen Ebene nicht bekannt.
Reta: In der Schweiz treten Caritas und HEKS betont überkonfessionell auf. Caritas dominiert das Thema „Armut in der Schweiz“. Wer aber eigentlich dynamisch ist und auch neue soziale Dienstleistungen aufbaut, das ist die Heilsarmee. Sie betreibt etliche Asylbewerberheime.
Und wird das dann auch staatlich gefördert?
Reta: Das wird entschädigt und auf dem Markt verschiedener Anbieter ist die Heilsarmee recht erfolgreich, weil sie vermutlich auch eine Querfinanzierung macht.
Haben die Freidenker schon einmal daran gedacht, als Sozialverband aktiv zu werden?
Andreas: Ich glaube, das ist ein Bereich, in dem die politische und weltanschauliche Heterogenität der Freidenker dagegen spricht, aktiv zu werden. Die Frage, außerhalb der Trennlinie Staat-Kirche: Was soll der Staat in Eigenregie tun und wo ist es gut, wenn etwas nicht staatlich organisiert ist? beantworten die Mitglieder höchst unterschiedlich.
Ich denke, man kann sehr gute Argumente für einen Parallelbetrieb im Schulwesen und im erweiterten Gesundheitswesen einbringen und gleichzeitig gibt es sehr gute Argumente dafür, dass im Normalfall die staatliche Schule für jeden Schüler gut genug ist.
Ich denke, dass eine säkulare Organisation zu einem Träger wird, ist nur dann angebracht, wenn es die Heterogenität in diesem Markt bereits gibt.
Ich würde eher davor zurückschrecken, quasi einen Beitrag zu leisten, das staatliche Schulwesen zu schwächen, damit man in dem Bereich, der jetzt bereits privat organisiert ist, keine Übermacht der Kirchen hat.
Grundsätzlich meine ich, ist erst einmal der Staat im Bildungswesen zuständig, ein genügend gutes Angebot zu machen und bei privaten Trägerschaften soll der Staat in Fragen der Bewilligung großzügig sein, aber dass die dann umfangreich gefördert werden, das sehe ich sehr skeptisch. Wir würden uns wahrscheinlich völlig überflüssig streiten, wenn wir in der Weise aktiv werden wollten.
Valentin: In Richtung Schule gibt es ja gerade aus Zürich den Fall, dass es untersagt wurde, einen islamischen Kindergarten zu eröffnen. Und zwar mit der Begründung, dass das Curriculum zu sehr auf das Lernen des Korans und das Erlernen der arabischen Sprache hinginge und die Vermutung nahe läge, dass das normale Schulprogramm zu kurz käme.
Reta: Es ist kein Gesetz, sondern eine Verfügung für diesen Fall.
Valentin: Im Zuge dieser Ablehnung ist nun die Frage einer jüdische Privatschule in Zürich aufgekommen, die auch ein starkes Talmud-Studium macht und Hebräisch lernen groß schreibt. Jetzt soll evaluiert werden, ob diese Schule die Minimalvorgaben an Bildung erfüllt.
Es ist auch meine Meinung und Überzeugung, dass vorhandene gute, neutrale Volksschulen Freidenker-Kindergärten oder Freidenker-Schulen überflüssig machen. Wir kämpfen dafür, dass beispielsweise der Evolutionsunterricht in den Stoff des obligatorischen Schulunterrichts hinein kommt. Und das geht jetzt auch mit dem Lehrplan 21 für die deutschsprachigen Schulen; da haben wir unsere Meinung gesagt, haben uns vernehmen lassen und unseren Input als Verband gegeben. Vieles geht in diesem Bereich in eine gute Richtung. Abgesehen vom Religionsunterricht, der in Zürich und im Wallis sehr schlecht erteilt wird, gehen die Empfehlungen in die richtige Richtung. Bei der Evolution ebenso wie bei der Ethik. Auch das kritische, wissenschaftliche Denken soll vermehrt gefördert werden. Wir sehen diese Impulse sehr positiv. Wir werden aber auch darauf achten, dass die Vorgaben des neuen Lehrplans in den einzelnen Kantonen nicht allzu stark verwässert werden, z. B. durch die Einflussnahme der religiösen Lobby.
Ist das, was du jetzt gerade erwähnt hast, Ausdruck einer allgemeinen, stärkeren Säkularisierung der Gesellschaft?
Valentin: Einerseits ist es problematisch, da der Lehrplan 21 noch nicht beschlossen ist. Es gibt Bestrebungen, einiges wieder zurück zu nehmen und es wieder religiöser zu gestalten. Die Kirchen haben ein riesiges Trara gemacht: „Da ist zu wenig Christentum in diesem Lehrplan drin!“ Und die Politiker hören halt sehr schnell und gerne auf die Kirchenlobbys.
Insgesamt denke ich, ja, es ist die Strömung und eine allgemeine Tendenz bei so vielen Glaubensgemeinschaften und Nicht-Religiösen, dass die Volksschule einfach nicht mehr katholisch oder reformiert sein kann. Der gesellschaftliche Wandel muss sich da immer mehr in Volksschule und Staat allgemein abzeichnen.
Reta: Generell muss man schon sagen, dass in der Schweiz eine stetige Säkularisierung vor sich geht. Auch heute gibt immer noch konfessionelle Schulen aber sie haben immer mehr finanzielle Probleme und es wird Zeit, dass es ausläuft. Es gab auch Neugründungen und das waren neben den Evangelikalen die Muslime, die jetzt dazu kommen, und das ist wirklich eine Frage der Integration. Das ist ein Grundthema, was ich immer wieder versucht habe zu platzieren: Es gibt keine Integration durch Religion, es gibt höchstens Integration trotz Religion.
Ich habe gerade noch ein anders Bild vor mir gehabt, wegen der Säkularisierung. Die Freidenker sind wie ein Boot, das hat die Segel gesetzt und die Ruder sind bereit gelegt und dann kommt die große Welle und die Freidenker stehen immer noch am Ufer und gucken (Lachen) und sehen die Welle der Säkularisierung... und irgendwie haben sie es verpasst, auf dieser Welle ihr Boot zu platzieren.
Andreas: Das stimmt ein Stück weit, allerdings hängt die ganze Politik der gesellschaftlichen Entwicklung massiv hinterher...
... und wenn es um die Verschiebung der Trennlinie zwischen Staat und Kirche geht, dann versuchen wir als politische Organisation – um im Bild zu bleiben - diesen Prozess etwas zu beschleunigen. Aber es ist so: Es gibt Bereiche, in denen die Politik in der Gegenwart angekommen ist, beispielsweise die Sterbehilfe, der Fristen¬lösung zum Schwangerschaftsabbruch und zunehmend bei der Präimplantationsdiagnostik. Es gibt aber eine starke Gegenwehr gegen Veränderungen, wenn es um institutionelle Bevorzugungen geht.