(hpd) Der Deutsch-Iraner Navid Kermani stellt – indem er die Frage nach dem „Wir“ stellt – die Frage nach dem Selbstverständnis der in Deutschland lebenden Muslime. In Anbetracht der gerade wieder aufflammenden Diskussionen ist das eine sehr wichtige Frage.
Kermani legt großen Wert darauf, begreiflich zu machen, dass dieses „wir“ eben und gerade auch den – inzwischen relativ großen – Teil der deutschen Bevölkerung beinhaltet, der sich zum Islam bekennt oder aber seine kulturellen Wurzeln in einem Land hat, das von uns als „islamisch“ deklariert wird. Denn Deutschland ist, wenn auch nicht gänzlich unbemerkt so doch kaum öffentlich wahrgenommen, zu einem Einwanderungsland geworden. Mit allen sich daraus ergebenen Problemen und Chancen.
Von Beginn an stellt Navid Kermani klar, dass er gläubiger Muslim ist. Er berichtet über seine Kindheit und seine Familie, für die der Glaube zwar immer auch Teil des kulturellen Lebens war, aber nie den abgrenzenden und definierenden Wert hatte, der der Religion heute zugeschrieben wird. Kermani sagt, dass er zwar Muslim sei, aber eben auch Ehemann, Deutscher, Schriftsteller oder einfach nur: Mensch. Er verwehrt sich gegen jedes Schubladendenken und jegliche Bewertung allein aufgrund von religiösen Überzeugungen. Daher ist für ihn „Wer ist wir?“ eigentlich eine falsche Frage. Denn Menschen sind nicht nur dies oder jenes; sondern komplexe Wesen in einer komplexen Umwelt. Und daher nicht aufgrund einer alleinigen Zuschreibung zu definieren.
Andererseits stellt der Autor die Frage danach, weshalb selbst Migranten der dritten oder gar vierten Generation sich immer mehr von der Gesellschaft abgrenzen. Kermani stellt dazu fest: „Es ist der Eindruck, niemals dazugehören zu können - niemals gemeint zu sein, wenn ein Staatsführer oder Fernsehkommentator ‚wir‘ sagt.“ (S. 88) und schlussfolgert daraus, dass, wenn die Gesellschaft die Integration der muslimischen (aber auch aller anderen) Migranten erreichen möchte, sie dies auch ermöglichen muss. Deshalb ist das Buch vor allem ein Plädoyer dafür, sich gegenseitig erst einmal kennenzulernen; zu verstehen, wie der „Andere“ denkt, fühlt und leben möchte.
Und anders als Arikan und Ham stellt sich Navid Kermani auch den Fragen, die sich im öffentlichen Diskurs des Westens immer wieder stellen: wie verhält sich der Islam zum ihm zugeschriebenen Terror? Wie kompatibel ist er mit den universellen Menschenrechten? Und weshalb erstarkt innerhalb des Islam der Fundamentalismus zu einer Zeit, da die technische Entwicklung weltweit in immer stärkerem Maße von der Menschheit verlangt, global zu denken und zu handeln. Hier bestätigt er auch meine eigenen Überlegungen; dass nämlich durch die Globalisierung der Mensch sich immer kleiner, immer ungeschützter und verlorener vorkommt. Wir Menschen sind – meiner Meinung nach – evolutionär noch immer nur in der Lage, in und von Menschengruppen von der Größe eines Stammes zu denken. Das globale Dorf überfordert uns ganz einfach. Anders ist auch kaum zu begreifen, dass unsere Spiegelneuronen regieren, wenn wir des Nachbars Hund heulen hören und gleichfalls relativ unbeeindruckt die Nachricht von tausendfachem Sterben auf fernen Kontinenten ertragen können. Navid Kermani schreibt: „Fundamentalistische Lebensentwürfe sind attraktiv, weil sie die Menschen mit dem versorgen, was ihnen in der modernen, globalisierten Welt am meisten fehlt: Eindeutigkeit, verbindliche Regeln, feste Zugehörigkeiten - eine Identität.“ (S. 15) Ein – wie irrationaler auch immer – Wertekanon kann Halt geben. Einen Halt, den die Gesellschaft offensichtlich nicht bieten kann. (Vgl. auch Peter Boldt‘s Thesen in „Zur Evolution des Glaubens und der Ethik“.)
Daraus entwickelt er die Frage: wie zugehörig kann sich ein muslimischer Migrant in Deutschland fühlen? Kann sich überhaupt so etwas wie eine muslimisch-deutschen Identität herausbilden? Kermani bejaht diese Frage uneingeschränkt. “Gerade weil die europäischen Werte säkular sind, sind sie an keine bestimmte Herkunft oder Religion gebunden, sondern lassen sich prinzipiell übertragen.“ (S. 137) Und genau deshalb ist er der Auffassung, dass eine Integration in die westliche Gesellschaft sehr wohl möglich ist. (Im Umkehrschluss wäre daraus streng religiösen Ländern zu unterstellen, eine Integration unmöglich zu machen. Woraus wiederum der Schluss zu ziehen wäre, dass sich Bischof Meisner freuen sollte, in einen halbwegs säkularen Staat zu leben.