Antisemitismus, also Hass und Ablehnng gegen Juden und alles vermeintlich Jüdische, gehört zu den drängenden Problemen der Gegenwart. Doch er ist alles andere als ein neues Phänomen. Der französische Denker Jean-Paul Sartre hat sich in seinem 1946 erschienenen Essay "Réflexions sur la question juive" ausführlich mit der Funktion von Antisemitismus in der Gesellschaft auseinandergesetzt. Demnach handelt es sich um einen Sündenbock-Mechanismus, der individuelle Unsicherheiten ebenso wie gesellschaftliche Machtstrukturen stützt. Michael Scholz hat Sartres klassischen und beklemmend aktuellen Essay gelesen.
In seinem 1946 erschienenen Werk "Réflexions sur la question juive" ("Betrachtungen zur Judenfrage", später auch: "Überlegungen zur Judenfrage") legt Jean-Paul Sartre eine interessante Theorie des Antisemitismus dar, die eine tiefgründige psychologische und gesellschaftliche Analyse dieses jahrhundertealten Phänomens ist. Er untersucht hierbei, warum Menschen antisemitische Haltungen entwickeln und welche quasi "Funktion" der Antisemitismus in der Gesellschaft erfüllt. Sein Ausgangspunkt ist, dass Antisemitismus nicht nur ein einfaches Vorurteil ist, sondern eine komplexe Ideologie, die tief in der sozialen und politischen Struktur wurzelt. Sartre analysiert in diesem Werk die antisemitischen Vorurteile und die gesellschaftlichen Bedingungen, die zu Antisemitismus führen. Er plädiert für ein Verständnis der jüdischen Identität und kritisiert die Diskriminierung und den Hass gegen Juden. Zudem versucht er, die Perspektive der Juden zu beleuchten und betont die Notwendigkeit der Solidarität gegen Antisemitismus.
Sartre beschreibt den Antisemitismus in seinem Buch als eine der ältesten und tief verwurzelten "Verschwörungstheorien" der Welt. Antisemitische Ideologien neigen dazu, die Juden kollektiv für alle gesellschaftlichen Missstände verantwortlich zu machen. Die Juden werden als "schuldige" Gruppe dargestellt, die im Geheimen und manipulativ die Weltwirtschaft, die Politik oder andere soziale Systeme kontrolliert. Diese paranoide Weltsicht ist jedoch völlig unbegründet und beruht auf nichts anderem als falschen Annahmen und Projektionen.
Den Antisemitismus sieht Sartre aber auch als Projektionsfläche der eigenen Ängste, Unsicherheiten und ungelösten Konflikte des Antisemiten. Menschen, die sich von der Gesellschaft oder dem Leben insgesamt entfremdet fühlen, suchen nach einem Sündenbock und "der Jude" wird in diesem Kontext als idealer Projektionspartner gewählt, weil er als "anders" wahrgenommen wird – er hat eine andere Religion, eine andere Kultur und wird somit als Außenseiter betrachtet.
So schreibt Sartre:
"Der Antisemit ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden natürlich: vor sich selbst, vor seinem Bewußtsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor seinen Verantwortlichkeiten, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und vor der Welt; vor allem, außer vor den Juden. Er ist ein Feigling, der sich seine Feigheit nicht eingestehen will; ein Mörder, der seine Mordlust verdrängt oder zensiert, ohne sie zügeln zu können, und der trotzdem nur in effigie oder in der Anonymität einer Menge zu töten wagt; ein Unzufriedener, der sich nicht aufzulehnen wagt aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung."
Sartre argumentiert, dass der Antisemitismus eine Form der Verdrängung ist, bei der die inneren Widersprüche des eigenen Lebens oder der Gesellschaft auf die "Juden" übertragen werden. Der Antisemit hat oft ein Problem mit sich selbst oder seiner Stellung in der Gesellschaft, aber anstatt sich mit seinen eigenen Unsicherheiten und Problemen auseinanderzusetzen, projiziert er diese auf die Juden, die dann als vermeintliche "Ursache" aller sozialen Übel und Missstände herhalten müssen.
Insgesamt betrachtet Sartre den Antisemitismus auch als eine soziale Konstruktion, die von der Gesellschaft aufrechterhalten wird. Er sieht den Antisemitismus nicht nur als ein individuelles Vorurteil, sondern als eine gesellschaftlich verbreitete Ideologie, die vor allem von denjenigen in der Gesellschaft gepflegt wird, die ihre Macht und Privilegien bewahren wollen. Der Antisemitismus dient daher auch der sozialen Kontrolle und der Schaffung von "anderen", die als Bedrohung oder "Feind" wahrgenommen werden können.
Den Begriff des "Juden" sieht er nicht als auf realen, objektiven Eigenschaften beruhend, sondern auf einer Konstruktion, die von der Gesellschaft geprägt wird. Der "Jude" wird in antisemitischen Diskursen als eine Gruppe mit bestimmten Merkmalen (z.B. hinterhältig, manipulativ, reich) definiert – obwohl diese Merkmale nicht der Realität entsprechen. Der Antisemitismus beruht demnach weniger auf wirklichen Eigenschaften der Juden, sondern ist eine Reaktion auf die Vorstellung, die der Antisemit von den Juden hat.
Sartre betont, dass der Antisemitismus nicht primär aus einer echten Feindschaft gegenüber den Juden hervorgeht, sondern aus einer tieferen Notwendigkeit der Gesellschaft, den "Anderen" zu schaffen – eine Gruppe, die als Feindbild dienen kann. Der Antisemitismus hat für die Gesellschaft eine funktionale Rolle, indem er eine Gruppe von Menschen stigmatisiert und dadurch von gesellschaftlichen oder politischen Krisen ablenkt. Allgemeiner gesagt: Um ein Problem in den Griff zu bekommen, muss man nicht selbst etwas tun, wenn man sich einfach gegen die Juden stellen kann. "Si le juif n'existait pas, l'antisémite l'inventerait", schreibt Sartre. Wenn es den Juden nicht gäbe, würde ihn der Antisemit erfinden.
Für Sartre ist der Antisemitismus ein komplexes Phänomen, das tief in der sozialen Struktur verwurzelt ist und weniger etwas mit den "echten" Eigenschaften der Juden zu tun hat als mit den Ängsten, Projektionen und Bedürfnissen der Antisemiten und der Gesellschaft insgesamt. Sartre betrachtet den Antisemitismus als eine Ideologie, die den Einzelnen von der Auseinandersetzung mit seinen eigenen Problemen und von der komplexen sozialen Wirklichkeit entbindet, indem sie einen Sündenbock schafft. In dieser Funktion betrachtet er den Antisemitismus als eine "Verschwörungstheorie", die dazu dient, die soziale Welt in einfache, dualistische Kategorien von "Gut" und "Böse" zu unterteilen und dadurch komplexe soziale und politische Probleme zu verschleiern.
Sartres Analyse des Antisemitismus bleibt auch heute noch von Bedeutung, weil sie nicht nur auf die historische Dimension des Antisemitismus eingeht, sondern auch auf die psychologischen und sozialen Mechanismen, die ihn fördern und am Leben erhalten.
6 Kommentare
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Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Dies hat J.P.Sartre richtig erkannt, so ist Judenhass entstanden, als Blitzableiter der eigenen Unfähigkeit ein vernünftiges Weltbild zu erschaffen und dies gibt es heute noch.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Da ist nichts falsch an der Analyse und doch greift sie ein wenig zu kurz.
Semiten sind letztlich die Bewohner der Levante, die sich hpr = Hebräer nannten, also Palästinenser. Die heutige Unterteilung in Israeliten und Palästinenser ist eine rein ideologische, nämlich religiös bedingte.
Diese Bewohner, meist nomadisierende Schafhirten, "blockierten" quasi das fruchtbare Jordantal, das einen engen Korridor zwischen Mittelmeer und Wüste bildete, der Ägypten und die nördlichen Länder um Euphrat und Tigris (das biblische "Paradies") miteinander verband.
Daher war die Levante ein immer wieder umkämpftes, immer wieder annektiertes, erobertes Stück Land ("der kleine Winkel" wie es Luther beschrieb), das quasi nie "sich selbst" gehörte - stets tributpflichtig, nie "in Ruhe gelassen".
Deshalb entstand in diesem Umfeld die Ideologie des einen Gottes, der dieses Volk beschützte, auserwählte und ihm dieses "gelobte Land" versprach. Alle anderen Götter - also die der feindlichen Reiche drumherum - wurden zu Götzen erklärt, zu unnützen Steinfiguren. Durch diese - in Babylon vertiefte und formulierte - neue Ideologie, den Monotheismus, machten sich die Hebräer keine Freunde, aber sie erhielten sich Hoffnung und schufen innere Identität.
Als 70 n.u.Z. der 2. Tempel in Jerusalem unter Titus zerstört wurde (als "Prophezeiung" im NT erwähnt), begannen Zweifel am Schutzherren Jahu (oder Jahwe) und der Grund für a) den schweren Gang in die Diaspora und b) die Entstehung eines neuen, missionierenden Monotheismus (Christentum) war geboren.
Als das Christentum römische Staatsreligion wurde, begann dessen Siegeszug in Europa. Die emigrierten Hebräer - also die "echten Monotheisten" - bildeten nun jüdische Enklaven in den umliegenden Ländern (auch in Saudi Arabien, im Osten, Norden und Westen), wo sie sich gegen den "falschen Monotheismus" abgrenzten.
Natürlich erzeugte dies eine gefährliche Gemengelage. Für Christen waren Juden Christusmörder und für Juden waren Christen Abtrünnige, Häretiker, die an einen Sohn "Gottes", mehr noch, die an einer (aus jüdischer Sicht lächerliche) Trinität glaubten. Es gab also von Anfang an keine Basis einer einvernehmlichen Zusammenarbeit.
Da Juden fortan fast alle Gewerbe verboten waren, blieben ihnen Geldgeschäfte, was zu den bis heute aktiven Vorurteilen führte, Juden seien a) alle reich und b) kontrollierten die Geldmärkte. D. h. bereits hier lieferten sie eine billige Ausrede für das eigene, wirtschaftliche Versagen. Nicht die Fürsten gingen schlecht mit Geld um, sondern die Juden waren Schuld! Und die Kirchen unterstützten diese Position, um die "Christusmörder" aus dem Land zu vertreiben.
Der wirkmächtige Popstar seiner Zeit - Martin Luther - tat ein übriges, indem er in vielen Büchern gegen Juden hetzte. Dass in diesem Umfeld eine Art Wagenburgmentalität bei Juden entstand, ist nicht verwunderlich. So schaukelten sich die Vorurteile immer weiter hoch, bis sie einen so unübersichtlichen Wust an Halbwahrheiten und Lügen erzeugten, dass niemand mehr sich die Mühe machte, die Fakten aufzuspüren.
Daher - diese Analyse ist vollkommen richtig - dienen Juden bis heute als billige Ausrede für eigenes Versagen. Durchbrochen werden könnte dies nur, wenn alle Seiten ihre Ideologien hinterfragten, sich letztlich fragten, ob es diesen Gott, der einst nur die Juden schützen sollte und den heute Christen und Muslime für sich beanspruchen, ob es diesen Gott überhaupt geben kann. Wirkungslos ist er allemal und damit könnte man den verheerenden Glauben an ihn auch aufgeben und den Menschen im Gegenüber erkennen.
Und die, die dadurch ihr Feindbild, ihre billige Ausrede verlören, müssten sich natürlich mit Blick in den Badezimmerspiegel fragen, was sie selbst falsch gemacht haben, wenn es in ihrem Leben nicht rund läuft...
Stefan Räbiger am Permanenter Link
Eine sehr gute und notwendige Ergänzung zu dem oberen Essay. Mit der einzig richtigen Schlussfolgerung. Danke
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Sehr gut dargestellt und recherchiert, sagt aber genau das aus was ich mit einfacheren Worten hier seit langem von mir gebe, Religionen fördern und verursachen nur Kriege, da jede einzeln behauptet den wahren Gott zu
Sterben müssen wir alle einmal und geben unsere Moleküle wieder in den Kreislauf der Natur zurück, insofern gibt es ein "ewiges Leben" aber nur solange unser Planet noch besteht und dies haben wir teilweise selbst in der Hand, in die Zukunft kann niemand schauen, wir können nur versuchen das Leid der Welt zu mildern oder sogar abzuschaffen, mit Vernunft und Erkenntnis über die realen Parameter des Lebens, das heißt ohne einen
oder mehrere erfundene "Gottheiten", dahin muß die Menschheit in absehbarer Zeit kommen, bevor sie sich selbst noch auslöscht, dieser wunderschöne blaue Planet Erde hat es nicht verdient derartig behandelt zu werden, er gibt uns alles was wir brauchen um gut leben zu können, nur die Dummheit und die Geld und Machtgier einzelner verhindert noch
für alle ein lebenswertes Leben zu erreichen.
Real Human am Permanenter Link
Ich schließe mich der Einschätzung von Bernd Kammermeier an.
Als gelernter Esperantist fallen mir da ganz andere „Juden“ ein: Z.B. Ludwik Lejzer Zamenhof, der Begründer der „Internacia Lingvo“ (der Plansprache Esperanto). Schon sehr früh schätzte er den Zionismus als nicht zielführend ein.
„Stattdessen sah er die Zukunft der Juden eher in einer Welt gesichert, in der sprachliche, kulturelle und religiöse Barrieren überbrückt oder gänzlich abgebaut werden. (...) Als 1914 eine jüdische Esperanto-Vereinigung gegründet werden sollte, antwortete Zamenhof ablehnend: Jeder Nationalismus bringe Schlechtes, daher diene er seinem unglücklichen Volk am besten, wenn er die absolute Gerechtigkeit unter den Menschen [weltweit] anstrebe.“ (Wikipedia)
Innerhalb der Esperanto-Bewegung gibt es die Sennacieca Asocio Tutmonda (SAT), was etwa mit weltweiter Vereinigung von Nationslosen übersetzt werden könnte. Es handelt sich also um eine kosmopolitische Vereinigung, die bewusst die neutrale Plansprache Esperanto als Kommunikationsmittel propagiert. Alles Weitere findet man in den entsprechenden Wikipedia-Artikeln.
Kurz zusammengefasst bietet sich aber auch John Lennons „Imagine“ als Alternative zum weltweiten Wiederaufstieg völkisch-religiösen Irrsinns an.
Helmut Lambert am Permanenter Link
Sartre war für die Zeit vom Anfang des 20. Jhs nahe an ener Erklärung dran. Es bleibt jedoch oft die Frage: Warum? ...brauchten die Menschen einen Sündenbock....?