(hpd) Bis gestern war ihr Inhalt noch hochgeheim. Doch heute hat Papst Benedikt XVI. seine zweite Enzyklika „Spe salvi“ veröffentlicht. Darin soll
die Christenheit Neues über das Wesen der Hoffnung erfahren. Darauf hoffen vor allem die Katholiken selbst.
Zur Enzyklika ein Kommentar vom Philosophen Prof. Dr. Frieder Otto Wolf:
Die Liebe besiegt alles! Dies ist der springende Punkt aller menschlichen Hoffnung: Die menschliche Liebe lässt sich von nichts aufhalten, sie lässt sich nicht entmutigen und nicht brechen; in ihrer Liebe finden Menschen immer wieder den unbezweifelten Sinn ihres Handelns – und sie finden zusammen.
Menschliche Grunderfahrung als katholische Eigenheit?
Wenn wir im Deutschen bleiben, könnte jetzt der Eindruck entstehen, Prof. Joseph Ratzinger, als Papst Benedikt XVI., habe genau diese elementare Wahrheit menschlichen Lebens zur katholischen Glaubenswahrheit überhöht. Dann wäre wohl nur zu kritisieren, woher er den eigentümlichen Anspruch begründen will, dass eine solche menschliche Grunderfahrung besonders etwas mit seiner historisch späten (Papst Benedikt I.) und lange Zeit nur westeuropäischen Variante des römisch-katholischen Christentums, mit Christentum überhaupt bzw. den abrahamitischen Offenbarungsreligionen oder überhaupt mit einer Religion zusammenhängt. Auch Atheisten oder Agnostiker lieben.
Die seit Augustinus – auf den sich außer den Katholiken durchaus auch orientalische Christen und Protestanten berufen – immer wieder verbreitete Lehre, dass eine Ordnung der Liebe (ordo amoris) der Liebe zwischen den Menschen vorausgesetzt sei, der gemäß der Liebe zu Gott eine tragende Rolle spiele, ohne welche weder die Liebe zu anderen, noch die Liebe zu sich selbst nachhaltig möglich sei, hat den Nachteil, auf einer trockenen Versicherung zu beruhen, für die keine Argumente beigebracht werden können:
Unbestritten ist zwar – entgegen romantischen Unmittelbarkeitsvorstellungen –, dass Liebe etwas kompliziert Vermitteltes ist, was wir als Menschen immer wieder lernen und ausbalancieren müssen, aber warum in dieser (ebenso schwierigen wie lohnenden) „Arbeit reifer Liebe“ ein Gott oder auch der Gott eine herausgehobene Rolle spielen soll, lässt sich durch gar nichts begründen. Die Behauptung, dass einige das so „erfahren“ haben, mag subjektiv ehrlich und insofern auch wahr sein; aber sie rechtfertigt damit noch keineswegs eine Erfahrung auf andere – und schon gar nicht die offensichtlich kontrafaktische Schlussfolgerung, dass Atheisten eine derartige „reife Liebe“ unmöglich sei.
Päpstliche Liebesordnung
Was deutlich wird, wenn wir ins Lateinische umschalten. Da geht Prof. Ratzinger jetzt einen anderen Weg: Anstatt der Liebe eine solche „Ordnung“ überzustülpen, differenziert er sie. Auch dies hat eine lange Tradition, die sich in der Philosophie bis auf Platon zurückführen lässt – und sprachgeschichtlich auf die differenzierten Wortfelder, wie sie sich im Griechischen, im Hebräischen, im Aramäischen und im Lateinischen für dieses menschliche Grundgefühl finden. Er spricht also nicht von Amor, sondern von Caritas, kontrastiert die immer auch sexuelle Liebe (philia) mit der „reinen“ Nächstenliebe (agape).
Deswegen hat seine Vorgehensweise in theoretischer Hinsicht den schwer zu bestreitenden Nachteil, einen inneren Zusammenhang im menschlichen Trieb- und Sinngeschehen – mit seiner gesamten „Dialektik“ von Sublimierungen und Entsublimierungen, von Kultivierung und elementarer Kraftentfaltung – erst einmal auseinander zu reißen, um ihn dann anschließend in einer „Kulturtheorie“ oder einer „Moral“ mühsam wieder zusammenbringen zu müssen.
Und in praktischer Hinsicht führt seine Herangehensweise bekanntlich ja nicht nur zu Verleugnungen und Verklemmungen gegenüber der Triebgrundlage menschlicher Liebe, wie sie in der Praxis des Zölibats der Priester angelegt sind, sondern offenbar auch zu Schwierigkeiten damit, offen die Grenzen zu setzen, einzuhalten und ggf. zu sanktionieren, denen die sexuelle Komponente der Liebe zu unterwerfen ist, damit die Praxis der Liebe nicht die Freiheit der Beteiligten verletzt.
Gott als Nächstenliebe
In seiner ersten Enzyklika vom Januar 2006 hatte Ratzinger einen kühnen Vorstoß unternommen, als er mit der zentralen These Deus caritas est („Gott ist Nächstenliebe“), das Theorem der gottgestützten „Ordnung der Liebe“ mit der Operation einer Hierarchisierung der Formen der Liebe, in der die Nächstenliebe zur höchsten Form erklärt wird, direkt verbunden hatte.
Seine jetzt, seit heute, vorliegende zweite Enzyklika, Spe salvi, („Gerettet durch Hoffnung“), knüpft daran an, indem jetzt auch die Hoffnung für die derart römisch-katholisch ausdifferenzierte „Liebesordnung“ reklamiert wird: Laut einer Zusammenfassung durch den einschlägig kompetenten Erzbischof Bruno Forti geht es dabei um „eine Erinnerung daran, dass für den Christen die Hoffnung kein ’Etwas’ sei, das heißt kein in die Zukunft gerichteter Wunsch (ich bleibe gesund), sondern ein ’Jemand’, auf den ich alle Sorgen werfen kann: Jesus Christus, das Fleisch gewordene Wort. Eine Rückkehr zur christlichen Hoffnung gebe dem Leben des Einzelnen und der Geschichte der Menschheit neuen Sinn und sei deshalb eine konkrete Form der Liebe zu unserer Zeit“.
In dieser Diagnose wird nicht nur die heutige Krise der Menschheit auf den Verlust „christlicher Hoffnung“ zurückgeführt, was trotz der starken Position der römisch-katholischen Kirche als Weltreligion eine völlig unbegründete Anmaßung bleibt – die meisten Menschen haben diese Hoffnung noch nie gehegt. Vor allem aber wird die Hoffnung auf die genannte „Ordnung der Liebe“ zurückgeführt, mit der besonderen Variante, dass Gott hier in seiner Fleisch gewordenen Gestalt zum zentralen Moment dieser Liebesordnung erklärt wird.
Darin steckt zum einen, dass Hoffnung in der Tat nicht allein „auf Sachen“ bezogen werden kann, wie es schon Ernst Bloch beredt ausgeführt hat, sondern immer auch auf handelnde Personen bezogen ist, die sich gemeinsam und wechselseitig Grund zu der Hoffnung geben, „es schaffen zu können“; zum anderen aber auch, dass diese Suche nach Gründen der Hoffnung gleichsam kurz geschlossen wird auf den besonderen Gegenstand der Heilsverkündung der Kirche, „das Fleisch gewordene Wort“.
Das wirft immerhin das theologisch-philosophische Problem auf, ob hier nicht die eigenständige Bedeutsamkeit der anderen „Achsen“ selbst der traditionellen, augustinischen „Ordnung der Liebe“ herunter gespielt oder sogar verletzt wird: Müssen wir nicht zumindest auch und eigenständig nach tragfähigen Gründen der Hoffnung im Umgang mit uns selbst und im Zusammenhandeln mit anderen suchen?
Abgesehen davon verschärft die hier vorgenommene Verknüpfung von Liebe und Hoffnung das grundlegende Problem der Abspaltung innerhalb der Liebe, caritas vs. amor, nur noch weiter: Warum soll eine derartige Verknüpfung nur für die „gereinigte“ Nächstenliebe gelten und nicht für die ganz gewöhnliche Menschenliebe und Menschenfreundschaft (das griechische philia meint immer beides)?
Angeblich ist auch noch eine dritte Enzyklika in Arbeit, in der es um den Glauben gehen wird. Damit würde dann auf der Differenzierung und Hierarchisierung der Liebesformen und der Ordnung der Liebe (an die ebenfalls schon im Januar 2006 die philosophischen Kernpunkte von „Wahrheit“ und „Frieden“ angedockt worden sind) auch noch eine Lehre der christlichen Elementartugenden aufgebaut: Glaube, Liebe, Hoffnung.
Hoffnung als System
Benedikt XVI. tritt also programmatisch als ein theologischer Systematisierer auf. Was bedeutet das? Ich denke, das kann nur eines bedeuten: Er will erreichen, dass seine römisch-katholische Kirche die Phase der Neuerungen und Neuentdeckungen hinter sich lässt, die das Zweite Vatikan-Konzil (1962-1965) eingeleitet hatte, indem er, wie das eine traditionelle agrarische Metapher auf den Punkt bringt, die „Spreu vom Weizen trennt“ und die „Ernte in die Scheuer bringt“.
Genau das ist aber angesichts der kritischen Herausforderungen, vor denen die Menschheit in den letzten Jahren des ersten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts steht, ein riesiges Problem.
Richtig ist, dass die Menschheit Hoffnung braucht, um diese Herausforderungen durch eine große Transformation bewältigen zu können. Aber sie wird diese Hoffnung nicht gewinnen können, indem sie das seit den 1960er Jahren Erreichte sichtet und systematisiert, ohne die grundlegenden Probleme ganz neu zu analysieren.
Hoffen mit Liebe
Dabei ist die Frage nach der menschlichen Liebe durchaus von zentraler Bedeutung. Aber ihr nachzugehen, indem sie zunächst von ihrem Triebkern abgetrennt wird und sie dann gänzlich losgelöst von ihren materiellen Bedingungen und Voraussetzungen erörtert wird, kann keinen Menschen weiter bringen.
Wir müssen hoffen, dass die Menschen, die sich von der römisch-katholischen Kirche leiten lassen, sich von diesen Systematisierungsversuchen nicht dabei aufhalten lassen werden, wirklich und wirksam Hoffnung zu schöpfen und hoffnungsvoll befreiend zu handeln.
Prof. Wolf ist Präsident der Humanistischen Akademie Deutschland