BERLIN. Es war zunächst nicht weiter aufgefallen, welches gotteslästerliche Thema der
prominent besetzte Themenabend in der „Böll-Stiftung" zu verhandeln hatte. Es war – logischerweise – der Philosoph in der Runde, der darauf hinwies. Wer oder was Gott sein könnte wurde seltsamerweise vorausgesetzt. Es fiel auch dreimal das Wort Humanismus, einmal sogar mit dem Zusatz „säkular", doch im Wesentlichen um darauf zu verweisen, dass dies nicht Gegenstand der Runde sei. Das animiert, diesen Bericht mit einem Witz zu beginnen. Das ist atheistischerweise angemessen vor einem ernsten Kommentar zum Thema „Wozu Gott?"
Es war einmal ein Mensch namens Josef. Der arme Kerl wollte unbedingt im Lotto gewinnen und betete "Oh lieber Gott, warum hast Du mich verlassen? Ich habe mein Geschäft, mein Haus und mein Auto verwettet. Meine Frau und meine Kinder sind hungrig. Ich frage ja nicht oft um Hilfe. Ich war immer ein guter Christ. Bitte, Bitte, lass mich nur dieses eine Mal im Lotto gewinnen, dass ich mein Leben wieder in geordnete Bahnen bringe!" Da gab es plötzlich einen hellen Blitz und lauten Donner. Die Himmelspforten öffneten sich und Gott sprach zu Josef: "Hallo Josef, alter Kumpel, komm mir die Hälfte des Weges entgegen ... und gib, wenn Du gewinnen willst, wenigstens mal einen Lottoschein ab!"
Dieses „witzische" Gleichnis lehrt dreierlei. Erstens spielt Gott selbst Lotto. Zweitens wird er vor allem dann angerufen, wenn es darum geht, das Glück herauszufordern. Drittens sollte, wer Gott vermutet oder jemanden kennt, der dies vermutet, sich vergewissern, dass es ihn gibt – und Reden über ihn organisieren.
Dass sich aber Menschen, die eine parteinahe Stiftung betreiben, sich ernstlich und öffentlich außerhalb einer Kirche oder eines Theologischen Seminars mit der Frage „Wozu Gott?" plagen, kann nur ernst genommen werden, weil theologische Debatten inzwischen selbst Teil des politischen Geschäfts geworden sind. In der Tat: Nachdem die „Politische Akademie der Friedrich Ebert Stiftung" mit dem Titel „Braucht Deutschland Religion?" (noch nicht dokumentiert) Ende Mai vorigen Jahres startete und „Aufgaben und Funktion von Religion in der pluralistischen Gesellschaft" und die Brauchbarkeit von Religionsgemeinschaften als „Sinn- und Wertelieferanten" für den säkularen Staat beriet, zog nun gestern am Abend die „Böll-Stiftung" nach und setzte noch eins drauf.
Es ging ihr, wie Ralf Fücks, Vorstand „Heinrich-Böll-Stiftung", auf der homepage schrieb und dann ausführte, um „das 'Eigentliche' jeder Religion, nämlich den Glauben, der einen spezifischen Zugang zur Transzendenz für jene ermöglicht, die glauben wollen". Weiter: „Wozu Gott? Es geht also um die Möglichkeit, um die Begründung und den Gehalt von Religion über die ihr zugedachten Funktionen für Staat und Gesellschaft hinaus." – Also: Es gehört zum Geschäft einer parteinahen Stiftung, Religiöses zu behandeln.
Das Reden über den Glauben hat aber so seine Tücken und der Altvater der Sozialwissenschaften, Max Weber, formulierte diese schon 1904 drastisch in seiner Schrift über „Objektivität": „‘Weltanschauungen' [können] niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens [sein] ..., und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren."
Wenn also Politisches wissenschaftlich verhandelt wird oder umgekehrt Wissenschaftliches politisch, wie es parteinaher Stiftung per Auftrag zukommt, dann ist jedes Heilige, um das gestritten werden könnte, als Bestandteil dieser Welt zu nehmen; dann ist Weltlichkeit das Normale und es gibt nichts außerhalb des Weltlichen. Dann ist auch Gott weltlich, d.h. Bestandteil eines Systems kultureller Annahmen und damit den Regeln dieses objektiven Systems subjektiver Vermutungen unterworfen – also wozu „Spiritualität" an einer politischen Einrichtung verhandeln?
Georg Simmel wurde total vergessen? Es stimmt doch wohl aber noch, wie er vor über hundert Jahren schrieb, dass das Problem jeder Debatte über Religion darin bestehe, dass der religiöse Mensch die „Dinge von vornherein so [erlebt], daß sie gar nicht anders sein können, als ihm die Güter gewähren, nach denen er als Religiöser begehrt." – So war es dann auch am gestrigen Selbstbestätigungsabend.
Das wird im Untertitel präzisiert (man glaubt, falsch gelesen zu haben): „Religion zwischen Spiritualität und Nützlichkeit" und in der Ankündigung ergänzt: „Kann im Zeitalter der Säkularisierung die humanitas innerweltlich begründet werden?" (Die Frage nach dem Überhaupt ist die eigentliche Provokation, wurde aber nicht als solche erkannt, wie sich zeigte.) Weiter: „Und was macht dann das Religiöse aus? Wie versucht die Theologie heute das Wesen der Religion zu definieren über eine anthropologische oder soziologische Deutung hinaus?" – Theologen, sagt den Philosophen, worum es geht, und Ihr Philosophen: Lernt wieder auf sie zu hören! Es war wohl diese Ahnung, die den schon oben zitierten Philosophen in der Runde gegen Ende sagen ließ, er rede inzwischen selbst wie ein Pfarrer.
Hauptreferent des Abends war Hans Joas (Universität Erfurt), der mit seinen Büchern „Die Entstehung der Werte" und „Braucht der Mensch Religion" Ecksteine in die Diskussion um die Essenz des Religiösen setzte. Ihm antworteten Herbert Schnädelbach als Verfechter einer rationalen Kritik des Christentums, unser Philosoph, dessen „Fluch des Christentums" 2000 viel beachtet wurde, und Rolf Schieder, der als Theologe die Kirchen nicht auf ihre Sozialfunktion beschränkt sehen möchte, der ein bekannter Verfechter der „Zivilreligion" ist, der das Buch „Wie viel Religion verträgt Deutschland?" geschrieben hat und der unlängst seine Thesen in der „Humanistischen Union" vortrug, was dortige Anhänger einer unbedingten Trennung von Staat und Religion – sagen wir mal – etwas verwirrte. Schieder fand zum Schluss das Thema und den Untertitel passend. Er ist nebenbei noch Domprediger in Berlin.
Joas trug fünf Thesen vor, die er dann wortreich verteidigte. Ihr Kern war, dass eigene religiöse Erfahrung – armer Max Weber – Voraussetzung sei für das Erforschen von Religion. Zwar befriedige Religion kein metaphysisches Grundbedürfnis, aber alle Menschen können „ergriffen" sein und Religiöses erfahren, dessen Deutungsbedarf zu befriedigen ist. Dabei werde – bei den einen tief, bei andren oberflächlich – Selbsttranszendenz erlebt und zu einer Religion bestätigenden Erfahrung.
In Deutschland gäbe es auf Religion bezogen derzeit eine kulturelle Veränderung: Während Gläubige schmerzlich erkennen, dass Religion keine anthropologische Konstante ist, müssten Ungläubige erfahren, dass Religion aus dem gesellschaftlichen Leben nicht verschwindet, trotz allgemeinem Bildungswachstum. Dass sich in dieser Lage möglicherweise ein neuer „Kulturkampf" anbahnt, müsse leider befürchtet werden.
Schnädelbach versuchte, dem Podium und dem Auditorium zu vergegenwärtigen, dass es auch der Klärung der Begriffe bedarf, wenn das Thema Religion verhandelt wird und man zumindest unterscheiden müsse zwischen dem Glauben, der geglaubt werde, und dem Glauben, durch den geglaubt werde. Wenn man dem nachgehe, so sei doch offensichtlich, dass Religion mit der Aufklärung subjektiviert worden sei, dass dem Individualisierung gefolgt sei und dann Privatisierung mit dem Effekt, dass Religionen, zugänglich durch Personen anderen Glaubens und Forschungen zu anderen Glauben, hier und heute eine Art Baumarkt sei, aus dem man sich die Teile besorgen könne, die man zu benötigen glaube, um eine eigene Religiosität zu basteln. Das Religiöse kultiviere sich, trete aus dem Zentrum der Gesellschaft heraus und stelle sich als ästhetische Erfahrung dar, die letztlich wahrscheinlich die religiöse gänzlich ablöse.
In diesem Zusammenhang verwies Schnädelbach auf seinen Aufsatz in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie" über „Aufklärung und Religionskritik" (54/2006) und auf einen bevorstehenden Artikel in der „Frankfurter Rundschau", in dem er auch etwas zum Phänomen der „frommen Atheisten" sagen werde.
Schieder beharrte auf seiner These, dass die Moderne das Interesse am Instrumentarium Religion nicht zerstört habe und Religion ein sozialer Sachverhalt sei, der im Alltag stattfinde und immer bestimmt sei und die Frage beantworten müsse, an welchen Gott geglaubt werde. Daraus ergebe sich die Frage, woher diese Deutung komme, was Gläubige und Ungläubige letztlich unterscheide. Es sei fraglich, ob der „Ergriffene" wissen müsse, dass er glaubt – er tut es. Dabei sei für Deutschland wichtig, dass der Staat neben sozialen Hilfen auch für die religiöse Versorgung sorge, im Gegensatz zu den USA. Die Sensation sei doch, dass es nach wie vor stabile Kirchen gibt und eine massenhafte Abkehr von Religion nicht feststellbar sei.
In der Debatte, die Joas weitgehend vom Podium aus beherrschte und auch Unterhaltungsbedürfnisse flott durch seine Rhetorik befriedigte, fielen dann Splitter wie „spirituelle Feuerwehr" und „Aufklärung ist nicht antireligiös". Große Anfragen kamen nicht: viele Nettigkeiten, einige Nachfragen, etwas Jesus, wenig Religionskritik, keine Politik, zum Schluss einige Aufregung, weil jemand anzumerken wagte, dass im Namen von Religion derzeit viel gemordet werde. Keine Politik bitte. Es schien den ganzen Abend, als sei die „Rückkehr der Religion" keine Frage der „Dialektik der Säkularisierung" und keine mögliche „Mär", sondern schon erfolgreich geschehen.
Gott hat die existenzielle Frage nach seinem „Wozu" nicht aushalten müssen. Sie wurde gar nicht scharf gestellt. Das Gros der Redner kam ihm auf halbem Weg entgegen. Es wird nun darüber weiter verhandelt, denn die Reihe wird fortgesetzt. Wozu – das ist hier die politische Frage.
Horst Groschopp