Steven Pinker über das Gehirn, die Seele und den Geist in der Maschine (Teil 1).
Die junge Frau hatte den Autounfall überlebt, mehr oder weniger. In den vergangenen fünf Monaten, nachdem Teile ihres Gehirns zerquetscht worden waren, konnte sie ihre Augen öffnen, reagierte aber nicht auf Blicke, Geräusche oder Stöße. Im Neurologen-Jargon würde man sagen: Ihr Zustand wurde als permanent vegetativ eingeschätzt. In deutlicherer Umgangssprache: Sie vegetierte dahin.
Stellen Sie sich also das Erstaunen britischer und belgischer Wissenschaftler vor, als sie ihr Gehirn mithilfe einer Art MRT (Magnetresonanztomographie) scannten, die den Blutfluss in aktive Gehirnteile ermittelt. Sprachen sie Sätze vor, leuchteten diejenigen Gehirnpartien auf, die sich mit der Sprache befassen. Wurde sie darum gebeten, sich vorzustellen, wie sie verschiedene Zimmer in ihrem Haus betritt, leuchteten die Teile auf, die mit der räumlichen Orientierung und der Wiedererkennung von Orten zu tun haben. Und man die Patientin anwies, sich beim Tennis spielen vorzustellen, kamen noch die Regionen hinzu, die Bewegungen in Gang setzen. Ihre Scans waren tatsächlich kaum von denen einer gesunden Versuchsperson zu unterscheiden. Das Bewusstsein der Frau schien gelegentlich aufzuflimmern.
Stellen Sie sich vor, Sie würden in der Haut dieser Frau stecken. Wissen Sie die Worte und Liebkosungen Ihrer verzweifelten Familie zu schätzen, während Sie die Frustration über Ihre Unfähigkeit in den Wahnsinn treibt, ihnen zu versichern, dass sie es überstehen werden? Oder treiben Sie im Nebel umher und werden nur kurz wieder lebendig, wenn eine Stimme zu Ihnen durchdringt, nur um gleich wieder in der Leere zu versinken? Könnten wir erleben, wie sich dieses Dasein anfühlt, würden wir es dem Tode vorziehen? Und gäbe es Antworten auf diese Fragen, würden sie dann unsere Politik gegenüber unempfänglichen Patienten ändern - sodass der Fall Terry Schiavo daneben wie ein Kinderspiel erscheint?
Die Meldung dieses ungewöhnlichen Falls im letzten September war nur der letzte Schock aus einem spannenden neuen Forschungsgebiet: Der Bewusstseinsforschung. Fragen, die einstmals theologischen Spekulationen vorbehalten waren, oder informellen Gesprächen im nächtlichen Schlafsaal, stehen nun an vorderster Front der kognitiven Neurowissenschaft. Was einige Probleme betrifft, wurde auch schon ein Minimalkonsens erreicht. Bei anderen Fragen ist die Verwirrung so groß, dass sie vielleicht niemals beantwortet werden können. Einige unserer tiefsten Überzeugungen über das Menschsein wurden erschüttert.
Es sollte uns nicht überraschen, dass uns die Erforschung des Bewusstseins mal erfreut und mal verstört. Sie ist wie kein anderes Thema. Wie René Descartes bemerkte, ist unser Bewusstsein das Unbezweifelbarste, das es gibt. Die großen Weltreligionen verorten es in einer Seele, die den körperlichen Tod überlebt, um ihre verdiente Strafe anzutreten oder um in einem Weltgeist zu verschmelzen. Für jeden von uns ist das Bewusstsein mit unserem Leben identisch. Es ist der Grund, warum Woody Allen sagte: „Ich möchte nicht unsterblich sein, weil man sich an meine Arbeit erinnert. Ich möchte unsterblich sein, weil ich nicht sterbe." Und die Überzeugung, dass andere Menschen genau wie wir lieben und leiden ist die Essenz der Empathie und das Fundament der Moral.
Um in einem so verworrenen Forschungsgebiet wie dem Bewusstsein Fortschritte zu erzielen, ist es zweckdienlich, erst einmal einige falsche Fährten zu verlassen. Das Bewusstsein hängt gewiss nicht von der Sprache ab. Babies, die genau wie viele Tiere und Patienten mit einem Gehirnschaden nicht in der Lage sind, zu sprechen, reagieren wie wir auf Reize und zeigen dadurch, dass jemand da ist. Das Bewusstsein kann auch nicht mit Eigenwahrnehmung gleichgesetzt werden. Wir haben uns beizeiten alle in Musik, Sport oder der Sinnenlust verloren, dies entspricht jedoch nicht der Bewusstlosigkeit.
Die „einfachen" und „schwierigen" Probleme
Was bleibt ist nicht ein Problem mit dem Bewusstsein, sondern zwei, die der Philosoph David Chalmers das Einfache Problem und das Schwierige Problem nannte. Es ist ein Insiderwitz, das erste „einfach" zu nennen: Es ist in dem Sinne einfach, wie es einfach ist, Krebs zu heilen oder jemanden auf den Mars zu schicken. Wissenschaftler wissen also mehr oder weniger, wonach sie suchen müssen und werden mit genug Intelligenz und finanzieller Ausstattung wahrscheinlich noch innerhalb dieses Jahrhunderts das Problem lösen.
Was genau ist das Einfache Problem? Es ist das, was Freud berühmt gemacht hat, der Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Gedanken. Einige Arten von Information im Gehirn - wie die Oberflächen vor Ihnen, Ihre Tagträume, Ihre Pläne für den Tag, Ihre Leidenschaften und Ärgernisse - sind bewusst. Sie können über sie nachdenken, über sie reden und sie Ihr Verhalten steuern lassen. Andere Arten sind unbewusst, wie zum Beispiel die Kontrolle Ihrer Herzfrequenz, die Regeln, nach denen die Worte geordnet werden, die Sie sprechen und die Sequenz von Muskelkontraktionen, die Ihnen erlaubt, einen Stift zu halten. Diese müssen sich irgendwo im Gehirn befinden, weil Sie nicht laufen, reden und sehen könnten ohne sie, aber sie sind von Ihren Planungs- und Überlegungskreisläufen getrennt und Sie können überhaupt nichts über sie sagen.
Das Einfache Problem besteht also darin, bewusste von unbewussten mentalen Verknüpfungen zu unterscheiden, ihre Entsprechungen im Gehirn zu bestimmen und zu erklären, warum sie sich entwickelt haben.
Das Schwierige Problem lautet: Warum fühlt es sich wie etwas an, wenn ein bewusster Prozess im Gehirn abläuft - warum gibt es ein subjektives Ich-Erleben? Nicht nur sieht ein grünes Ding anders aus als ein rotes Ding, erinnert uns an andere grüne Dinge und inspiriert und zu sagen: „Das ist grün" (das Einfache Problem), sondern es sieht auch wirklich grün aus: Es erweckt den Eindruck schierer Grünheit und dieser ist nicht reduzierbar auf irgendetwas anderes. Wie Louis Armstrong es formulierte, als er gebeten wurde, Jazz zu definieren: „Wenn du fragen musst, was es ist, dann wirst du es niemals erfahren."
Das Schwierige Problem besteht also darin, zu erklären, wie subjektive Erfahrungen aus der neuronalen Verknüpfung von Nervenzellen entstehen. Das Problem ist schwierig, weil niemand weiß, wie eine Lösung aussehen könnte, oder ob es überhaupt ein echtes wissenschaftliches Problem ist. Und wenig überraschend sind sich alle darüber einig, dass das Schwierige Problem (wenn es denn ein Problem ist) ein Rätsel bleiben wird.
Obwohl noch keines der Probleme gelöst wurde, sind sich Neurowissenschafter über viele Eigenschaften der beiden einig und die Eigenschaft, die sie für am wenigsten kontrovers halten, ist diejenige, die viele Menschen außerhalb des Forschungsbereichs am meisten schockiert. Francis Crick nannte sie „Die erstaunliche Hypothese" - die Idee, dass unsere Gedanken, Sinneseindrücke, Freuden und Schmerzen vollkommen auf physiologischen Aktivitäten in den Gehirnwindungen basieren. Das Bewusstsein wohnt nicht in einer ätherischen Seele, die das Gehirn wie einen PDA benutzt; das Bewusstsein ist die Gehirnaktivität.
Das Gehirn als Maschine
Wissenschaftler haben der Maschine nicht deshalb den Geist ausgetrieben, weil sie mechanistische Spielverderber sind, sondern weil sie Belege angehäuft haben, dass jeder Aspekt unseres Bewusstseins mit dem Gehirn verbunden werden kann. Indem sie eine zweckmäßige MRT verwenden, können Neurowissenschaftler beinahe die Gedanken der Menschen anhand des Blutes lesen, das durch ihre Gehirne fließt. Sie können zum Beispiel feststellen, ob eine Person an ein Gesicht denkt oder an einen Ort, oder ob das Bild, das eine Person ansieht, das von einer Flasche oder das von einem Schuh ist.
Und das Bewusstsein kann durch physische Manipulationen herumgestoßen werden. Elektrische Stimulation des Gehirns während einer Operation können eine Person Halluzinationen erleben lassen, die von der Realität nicht zu unterscheiden sind, wie etwa ein Lied, das im Zimmer gespielt wird, oder eine Kindergeburtstagsparty. Chemikalien, die das Gehirn beeinflussen, von Koffein über Alkohol bis Prozac und LSD, können die Art und Weise, wie Menschen denken, fühlen und sehen, tiefgreifend verändern. Eine Operation, bei der das Corpus Callosum durchgeschnitten wird und somit die beiden Hemisphären getrennt werden (eine Behandlung für Epilepsie), führt zu zwei Bewusstsein im selben Schädel, als könnte man die Seele mit einem Messer entzweischneiden.
Und wenn die physiologische Aktivität des Gehirns aufhört, dann bedeutet dies auch das Ende für das Bewusstsein einer Person, so weit irgendjemand das sagen kann. Versuche, mit den Seelen der Toten in Kontakt zu treten (ein Ziel ernsthafter Wissenschaftler noch vor 100 Jahren) haben sich als billige Zaubertricks erwiesen und Nahtoderfahrungen sind nicht die Augenzeugenberichte einer Seele, die den Körper verlässt, sondern Symptome von Sauerstoffmangel in den Augen und im Gehirn. Im September hat ein Team schweizer Neurowissenschaftler bekannt gegeben, dass sie außerkörperliche Erfahrungen durch Stimulierung des Gehirnteils, in dem optische Wahrnehmungen und der Drucksinn zusammenlaufen, an und aus stellen können.
Fortsetzung folgt...
Übersetzung: Andreas Müller
Quelle: Pinker, Steven: The Mystery of Consciousness. Time. 19. Januar 2007
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