(hpd) Verhofstadt analysiert – basierend auf zahlreichen historischen Studien und Abhandlungen sowie auf vom Vatikan und anderen kirchlichen Stellen bisher freigegebenen Dokumenten – ausführlich und tiefschürfend die Politik und Haltung des Vatikans, speziell von Pius XII, während der Periode des europäischen Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Am 19. 12. 2009 wurde Papst Pius XII von Papst Benedikt XVI aufgrund seiner „heroischen Tugenden“ für „ehrwürdig“ erklärt, eine folgende „Seligsprechung“ ist absehbar. Die Diskussion um die Rolle von Pius XII während der Entwicklung, Ausbreitung und Gräueltaten des Nazi-Regimes erhitzt seit Ende des 2. Weltkrieges die Gemüter (siehe auch „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth); unter Historikern bestehen nach wie vor grundlegende Meinungsverschiedenheiten zum Auftreten und Wirken des Papstes und zur Haltung der katholischen Kirche insgesamt. Manche sehen in Pius XII einen Helden des Widerstandes, einen Retter zahlloser Menschen, andere Historiker kommen – bei Bewertung der gleichen Quellenlage – zum Schluss, dass sein Opportunismus gegenüber dem Naziregime mitverantwortlich für den Tod unzähliger Menschen – vor allem Juden – im Holocaust gewesen sei.
Dirk Vorhofstadt zitiert eine große Zahl von Hinweisen und Dokumenten, die belegen, dass der Vatikan über Gräueltaten des Nazi-Regimes (z.B. in Euthanasieanstalten) sowie über die Vernichtung der Juden in den KZs früh Bescheid wusste und nichts dagegen unternommen hatte. Er fragt sich auch, warum der Vatikan (die katholische Kirche insgesamt) gegen die ersten Unterdrückungsmaßnahmen 1933, die Rassengesetze 1935, die Misshandlungen von Juden beim Anschluss Österreichs 1938, die Vorgänge der sogenannten „Kristallnacht“ 1938 und die danach einsetzenden massenhaften Deportationen nicht protestierte. Viele weitere Fragen schließen sich an, z.B. auch, warum nie ein hochrangiger Nazi exkommuniziert und warum Hitlers „Mein Kampf“ nie auf den Index verbotener Bücher gesetzt wurde.
Nach Aussage des Autors ist das Ziel des Buches, zu einem besseren Verständnis der Rolle des Vatikans vor und während des 2. Weltkrieges beizutragen, wobei die möglichen Gründe für das vatikanische Verhalten aufgezeigt und bewertet werden.
Das Buch (447 Seiten) gliedert sich in fünf Teile mit zahlreichen Unterkapiteln; wegen der Fülle der aufgeworfenen Fragen sowie der umfangreichen historischen Darstellungen und zitierten Dokumente kann in dieser Rezension allerdings nur auf sehr wenige Punkte näher eingegangen werden.
Teil I stellt u.a. die Frage, was der Papst wusste und warum er weitgehend geschwiegen hat. Die Antwort – sehr verkürzt – lautet: Er hat sehr früh, sehr viel gewusst; die Sorge vor einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus hat sein Schweigen wesentlich bestimmt.
Teil II widmet sich u.a. der 1937 veröffentlichten Enzyklika „Mit brennender Sorge“, die nach Ansicht mancher Historiker die strengste Missbilligung eines nationalen Regimes, die der Heilige Stuhl jemals publiziert hat, darstellt. Allerdings: Diese Enzyklika enthielt allgemeine Aussagen gegen Rassismus, aber keine Verurteilung des herrschenden Rassismus und der Menschenrechtsverletzungen; zu den Judenverfolgungen wurde nichts gesagt und auch die damals bereits bekannten Verbrechen des Naziregimes wurden mit keinem Wort erwähnt. Außerdem war der Text wegen zahlreicher schwieriger theologischer Wendungen so kompliziert, dass er für normale Leute unverständlich blieb.
Teil III behandelt den Krieg in Polen und Westeuropa, die Deportationen aus Frankreich und die massive Unterstützung des Unternehmens „Barbarossa“ durch die deutschen Bischöfe. Als ein Beispiel aus vielen sei hier der Hirtenbrief des Bischof Rackl genannt, der den Russlandfeldzug als „wahren Kreuzzug, einen heiligen Krieg für Volk, Vaterland, Glauben und die Kirche sowie für Christus und sein heiliges Kreuz“ bezeichnete. Zu diesen in den Kirchen verlesenen „Briefen“ und vielen weiteren (unerträglichen) Schriften und Aussagen höchster deutscher katholischer Würdenträger gibt es nicht einen Hinweis, kein Dokument und keine historisch verbürgte Aussage, dass der Vatikan, oder der Papst persönlich, die deutschen Bischöfe zurechtgewiesen oder deren Verhalten zumindest missbilligt hätte.
In Teil IV geht es um „Mitschuld“; dabei werden die Rollen des „Priesterpräsidenten Tiso“ und der Ustascha, weiters die Vorgänge in Rom selbst, wie auch der ungarische Holocaust sowie die von diversen Klerikern (z.B. Bischof Hudal) geleistete Hilfe für Kriegsverbrecher beleuchtet.
Teil V mit dem Titel „Verleugnung“ widmet sich u.a. dem Thema „Erinnerung“. Die protestantischen Kirchen bekannten sich sehr bald nach dem Krieg zu ihrem Versagen „..wir klagen uns selbst an, dass wir nicht mit mehr Mut zu unseren Überzeugungen standen..“, die katholische Kirche hat sich viele Jahre davor gedrückt; erstmalig im Jahr 1998 nahm der Vatikan unter dem Titel „Wir erinnern uns“ zum Holocaust offiziell Stellung.
Pius XII schwieg zur Vernichtung der Juden in Europa; zahlreichen Bitten von diversen Institutionen, Botschaftern und Bischöfen (z. B. 1942 von Adam Sapieha, Erzbischof von Krakau) um eine persönliche öffentliche Verurteilung der Gräueltaten erteilte er nur vage Antworten oder wies darauf hin, „dass es Sache der örtlichen Bischöfe wäre, sich eventuell dazu zu äußern“. Apologeten des Papstes behaupten, dass er mit seiner neutralen Haltung, seiner stillen Diplomatie und sogar mit seinem Schweigen Hunderttausende Juden gerettet habe. Aussagen, denen zahlreiche namhafte Historiker entschieden widersprechen: „Vor allem war es das Schweigen, das die Juden zum Tode verurteilte“ postulierte Bruno Bettelheim 1985. Ein harter Vorwurf an alle Menschen, die über die Verbrechen der Nazis Bescheid wussten, aber schwiegen!
In Kapitel 37 „Schlussfolgerung“ bekräftigt der Autor als Resultat seiner Untersuchungen die Aussage, dass „die katholische Kirche protestierte, wenn ihre eigenen Interessen auf dem Spiel standen, dass sie aber schwieg, als die deutschen und österreichischen Christen durch antisemitische Ideen indoktriniert und die Juden verfolgt und ermordet wurden“. Das Argument „mit dem Schweigen habe man Schlimmeres verhindert“ wird vom Autor verworfen und mit einigen Beispielen erfolgreich mutigen Auftretens widerlegt.
Für den Vatikan gab es eine Vielzahl von Beweisen und glaubwürdigen Aussagen zu Gräueltaten und Massenmorden in den KZs, in Euthanasieanstalten, hinter den Fronten in Osteuropa etc. - durch entschiedene öffentliche Verurteilung der Verbrechen durch den Papst persönlich wäre es aller Wahr-scheinlichkeit nach möglich gewesen, Millionen Menschen zu retten. Als Grundursache für die opportunistische Haltung und das Schweigen des Papstes zum NS-Regime sieht Vorhofstadt die damalige eindeutige Präferenz des Vatikans für Faschismus und Nazismus in deren Gegnerschaft zu Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus.
Das Buch bietet ein umfassendes, gut lesbares, hoch interessantes Geschichtswerk für alle einschlägig Interessierten. Die Diskussion zu diesem - auch nach 68 Jahren noch immer brisanten - Thema ist damit aber sicherlich nicht zu Ende. Bei einigen der behandelten Fragen liegt die Bewertung „im Auge des Betrachters“, es bleiben aber mehr als genug „harte“ Fakten, die das Verhalten des Vatikans, bzw. des Papstes, während dieser schrecklichen Zeit zumindest sehr zwielichtig und äußerst bedenklich erscheinen lassen. Ein historisch letztes Wort wird es vermutlich nie geben, mehr Klarheit und Wahrheit könnte aber erreicht werden, wenn der Vatikan sich bereit erklärte, die Archive des Pontifikats Pius XII für wissenschaftliche Forschung zu öffnen. Ob - und gegebenenfalls wann - dies je der Fall sein wird, ist nicht absehbar.
Gerfried Pongratz
Dirk Verhofstadt: Pius XII. und die Vernichtung der Juden. Übersetzt von Rudy Monde-laers. Aschaffenburg: Alibri, 450 Seiten, Abbildungen. ISBN 978-3-86569-076-0, Euro 26,00
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