BUTZWEILER/MARBURG. (hpd) Rolf Schwendter ist am Sonntag (21. Juli) in Kassel gestorben. Er war ein unorthodoxer Denker als Liedermacher, Literaturwissenschaftler, Devianzforscher und geistiger Vater der "Alternativbewegung" der 70er und 80er Jahre. Michael Schmidt Salomon erinnert an seinen Doktorvater.
Die Nachricht von Rolf Schwendters Tod hat mich tief bestürzt. Denn Rolf war nicht nur einer meiner beiden Doktorväter - auch außerhalb des "wissenschaftlichen Elfenbeinturms" habe ich unendlich viel von ihm gelernt.
Der Kontakt zwischen uns wurde Anfang der 1990er Jahre durch Robert Jungk hergestellt, der in seinem langen, aufregenden Leben als Journalist und Zukunftsforscher viele "Geistesgrößen" des 20. Jahrhunderts getroffen hatte. Rolf Schwendter aber sei, so meinte Bob, etwas ganz Besonderes, ein außergewöhnlich kluger, offener, unorthodoxer Mensch, den ich unbedingt kennenlernen müsse.
Dass Bob Recht hatte, wurde mir schon bei der Begrüßung klar, als Rolf erklärte, er "lehre abweichendes Verhalten in Kassel" (womit er auf durchaus treffende Weise seinen Lehrstuhl für Devianz- und Subkulturforschung umschrieb).
Rolfs Mut zum Widerstand, seine Offenheit für ungewöhnliche Denkansätze, seine universelle, transdisziplinäre Herangehensweise und nicht zuletzt sein anarchischer Humor haben mein eigenes Denken stark geprägt (so hoffe ich zumindest - auch wenn Rolf wohl nie ganz verstand, warum ich der Religionskritik so große Bedeutung zumaß).
Rolf war ein Vorbild für alle, die vor der Irrationalität der Welt nicht voreilig kapitulieren, ein außergewöhnlich gebildeter und inspirierender "Narr des Widerstands" im Kampf gegen die "Toren der Macht". Er hat mehr bewegt, als die allermeisten von uns. (Sein Wikipedia-Eintrag gibt dies nur sehr unzureichend wieder.) Gäbe es mehr Menschen wie ihn, sähe die Welt deutlich anders aus. Die Lücke, die er hinterlässt, wird so schnell niemand füllen können.
Michael Schmidt-Salomon
Rolf Schwendter, 1999 / Handdruck von Heiner Studt
Auch die Humanistische Union trauert um Prof. Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter. Er war einer der Träger des Marburger Leuchtfeuers für Soziale Bürgerrechte.
"In Prof. Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter sieht die Jury einen Humanisten, der eine menschlicher ausgerichtete Gesellschaft nicht nur angestrebt, sondern selber schon gelebt hat." In ihrer Preisbegründung für das Marburger Leuchtfeuer 2008 fuhr die Jury fort: " Die Wirkung seines unglaublich facettenreichen Lebens in Gestalt vieler aktiver Gruppen, Bücher und Projekte - besteht bis heute fort."
Einen Namen gemacht hat sich der unorthodoxe Denker als Liedermacher, Literaturwissenschaftler, Devianzforscher und geistiger Vater der "Alternativbewegung" der 70er und 80er Jahre. Auf ihn gehen "Selbstverwaltete Kollektivbetriebe" ebenso zurück wie die Gesundheitsläden oder Selbstorganisation psychisch kranker und behinderter Menschen.
An den legendären Liedermachertreffen auf der Burg Waldeck hat Schwendter von Anfang an teilgenommen. Er war Mitbegründer des Mainzer Open-Ohr-Festivals, des Wiener Lesetheaters, Vorsitzender der Grazer Autorenvereinigung in Nachfolge von Ernst Jandl sowie (2001 – 2005) Präsident der Internationalen Erich-Fried-Gesellschaft in Wien.
Rolf Schwendter wurde 1939 in Wien als Rudolf Scheßwendter geboren. Sein Leben entzog sich jeglicher Schablone. Nicht zuletzt deswegen widmete er sich an der Universität Kassel der Erforschung von abweichendem Verhalten.
Oft wurde der Hochschulprofessor wegen seines ungewöhnlichen Auftretens für einen "Obdachlosen" gehalten. Als ein Student ihn vom Bahnhof abholen sollte, kehrte er unverrichteter Dinge wieder zurück mit der Begründung: "Da war kein Professor; da saß nur ein Penner mit Plastiktüten."
In der Preisbegründung bezeichnete die Jury Schwendter als "intellektuellen Zehnkämpfer". Sein Wirken in vollkommen unterschiedlichen Bereichen reichte von theoretischen Abhandlungen über ökonomische Themen oder die Subkultur bis hin zu Kochbüchern.
"Unseres Wissens war das Marburger Leuchtfeuer die einzige Auszeichnung, die Schwendter je erhalten hat", stellte der Marburger HU-Vorsitzende Franz-Josef Hanke bedauernd fest. "Dabei hat er den Alltag dieser Gesellschaft, ihre Kultur, die Behindertenbewegung oder den Umgang mit psychisch Kranken nachhaltig beeinflusst. Rolf Schwendter war einer der letzten großen Universalgelehrten, der dabei jedoch so bescheiden und unorthodox auftrat, dass viele ihn völlig verkannt haben."
Dragan Pavlovic
Siehe auch: Ein großer Unorthodoxer hat uns verlassen.