Das neue „Kapital“

(hpd) Der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, fand es witzig, unter Bezug auf die Namensgleichheit ein Buch “Das Kapital” auf den Marx, nein Markt zu werfen. Letzten Mittwoch früh hatte er darüber ein Interview auf Deutschlandradio Kultur. Das war für Stefan Körbel Anlass genug, einen Offenen Brief zu schreiben.

Der Autor ist studierter Kulturwissenschaftler, Kulturmanager und vor allem Chansonsänger. Nach 1999 prägte er den "Club Voltaire" in Berlin, ein Versuch einer multifunktionalen Kunstkneipe. Körbel spielt Gitarre, Geige, Mandoline und Saxophon, neuerdings Tango. Hier äußert er sich allerdings politisch, satirisch und kirchenkritisch.

„Betr.: Ihr Radiointerview auf DR Kultur am Vormittag des 29.10.

 

Sehr geehrter Herr Erzbischoff,

was würden Sie davon halten, wenn irgendein kecker Mensch, nehmen wir der Vollständigkeit halber mal an er hört auch noch auf den Vornamen Jesus, wie es ja in Lateinamerika oft vorkommt, ein Buch auf den Markt schmeißen würde unter dem Titel “Die Bibel” ? – Absurd, nicht wahr? Ein Aufschrei ginge durch die zivilisierte Welt. Religiöse Gefühle verletzt! Wie praktisch für sie, daß gläubige Menschen da eine Art Artenschutz genießen. Den Anderen hingegen ist alles zuzumuten, die kennen ja sowieso keine Werte ...
Aber so ernst ist es ja gar nicht. Eher ein bißchen lächerlich.
Die kurzen Äußerungen in dem Interview, das Sie am Mittwochvormittag dem Deutschlandradio Kultur gewährten, lasssen eher vermuten, daß Ihre Auseinandersetzung mit Marx wirklich nicht sehr tiefgründig gewesen sein kann.

Erstens. Sie betonten mehrfach, Marx wäre es nicht um den Menschen gegangen, er hätte lediglich eine ökonomische Analyse vorgelegt. – Nichts falscher als das.
Der Ursprung des Marxschen Ansatzes, die frühen Schriften belegen das, geht um das Phänomen der Entfremdung und deren Aufhebung. Und erst dieser Ansatz führt Marx zu der Notwendigkeit, Ökonomie zu betreiben. Sie war ihm nie Selbstzweck.
Worauf Sie sich beziehen, das ist allenfalls der halbe Marx. Und das erinnert fatal daran,
daß auch der Parteimarxismus der verblichenen DDR nie den ganzen Marx wollte. Es gab einen harten Durchsetzungskampf von engagierten Intellektuellen um Marx’ Frühwerk. Am weitesten ging und am mutigsten war Rudolf Bahro mit seinem Buch “Die Alternative”. Sie müßten das alles eigentlich wissen. Blenden es aber offenbar einfach aus. Mit sehr erkennbarem Grund ...

Zweitens. Marx weist gerade nach, daß es absurd ist, von Kapitalisten zu erwarten,
sie könnten sich moralisch verhalten. Ganz im Gegenteil: woll'n sie als Kapitalisten bestehen, müssen sie gerade auf die Moral pfeifen, bei Strafe des Untergangs.

(Aus ganz anderm Ansatz, nämlich dem der Psychoanalyse, kommt Erich Fromm um 1950 zu ganz ähnlichen Aussagen).
Die Konsequenz kann nur sein: nicht die Manager sind schlecht, sondern das System
ist falsch!
Ein bißchen davon scheint nun zu dämmern. Auch diejenigen, die vor paar Wochen noch alle Regulierung als Teufelszeug verdammten, reden nun von einem Ordnungsrahmen, der dem Markt angelegt werden müsse. Sehr was anderes scheint ja auch Ihnen nicht einzufallen.
Aber, mit Verlaub: das nämlich grade ist ja Sozialismus!
Im letzten und simpelsten Grund und im genauesten Sinne des Wortes ist Sozialismus
die Vorrangigkeit des Gesellschaftlichen über dem Wirtschaftlichen.

Drittens. Auch Sie muten uns die alte Leier zu, daß bei Marx eben auch schon die ganzen menschenverachtenden Folgen angelegt gewesen wären ... Oje. Stalin war gewiß kein Marxist, er hat den Alten vielleicht nicht einmal gelesen. Es ist ungefähr so, also würde man die ganze blutige Inquisition, die Hexenverbrennung, die Borgia-Päpste, die unter dem Kreuz begangenen Schweinereien der Kolonisationsgeschichte und den verbrecherischen Schwachsinn eines George W. Bush dem lieben Herrn Jesus in die Schuhe schieben!!
Sie verheben sich, Hochwürden. Der Londoner Marx scheint für den Münchner ein bißchen zu schwer zu sein.
Ein bissel kleiner hätte ja vielleicht auch was gebracht, wenn man die bösen Auswüchse anprangern will.

Zum Beispiel:
Wann erklärt ein katholischer Theologe mal uns staunendem Publikum, warum das Zins-
und Wucherverbot, über Jahrhunderte ein christliches Essential, in der heutigen christlichen Soziallehre keine Rolle mehr spielt?
(Fußnote: eine auch historisch sehr interessante Geschichte. Bei der Kaiserwahl von 1519 – Karl V., die Bestechung der Kurfürsten durch die Fugger usw. – scheint da ganz groß an der Uhr gedreht worden zu sein ... )

Nun denn, Herr Bischoff:
Ihre Furcht, der Marxismus würde eine Renaissance erleben, erfreut mir das Herze. Das wird er, fast möchte ich sagen: Gottseidank.
Etwa so sicher wie das Amen in ihrer Kirche.
Ich wünsch Ihnen weiterhin frohe Marx-Lektüre.
Ich meinerseits lese auch gern in der Bibel. Ein großartiges Märchenbuch.

Mit sozialistischem Gruß!“

Stefan Körbel

GG: Anmerkung – Die Schreib- und Ausdrucksweise des Autors (z. B. die altertümliche Schreibweise von  „Bischoff“ und „ß“) wurde beibehalten und nur offensichtliche Tippfehler wurden verbessert.