Der Antiindividualismus der Identitätslinken in der Migrationsdebatte

nicht_gleich.jpg

Menschen sind nicht gleich. Auch nicht in Gruppen.
Menschen sind nicht gleich.

Die Sozialwissenschaftlerin Sandra Kostner veröffentlicht in dem Sammelband "Identiätslinke Läuterungsagenda" einschlägige Texte, welche die Beschwörung von Gruppenidentitäten im Multikulturalismus-Diskurs kritisieren. In bester aufklärerischer Absicht werden in vielen Beiträgen der antiindividualistische Kollektivismus und seine freiheitsfeindliche Wirkung problematisiert, wobei die Rezeptionsbreite durch eine geringere Theorielastigkeit womöglich noch erhöht worden wäre.

Aktuell lässt sich die politische Linke idealtypisch in drei Richtungen unterteilen: eine Identitätslinke, eine Ökolinke und eine Soziallinke. Die Differenzierung behauptet nicht, dass es absolute Gegensätze geben muss, sie ignoriert auch nicht, dass sehr wohl Übergänge bestehen. Aber zu einer Einteilung des Gemeinten dienen die Kategorien schon. Doch was versteht man jeweils unter einer Identitäts-, Öko- und Soziallinken? Die Letztgenannten interessieren sich insbesondere für Verteilungsfragen, die Mittelgenannten blicken demgegenüber mehr auf die Umweltprobleme. Und was macht die Identitätslinke? Sie definiert sich über das Engagement für Minderheiten, die einer Diskriminierung in der Gesellschaft ausgesetzt seien. Es geht ihnen primär nicht mehr um soziale Gerechtigkeit, sondern um Identitätsgerechtigkeit. So lautet die Definition der Sozialwissenschaftlerin Sandra Kostner, die den Sammelband "Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften" herausgegeben hat.

Cover

Bereits in der Einleitung formuliert sie eine rigorose Gegenposition zum Gemeinten: "Die mit diesem Konzept einhergehende Kultivierung von Schuld- und Opferidentitäten verringert die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft und greift ihren liberalen Kern an, indem sie das Prinzip der gleichen Freiheit für Individuen der Vision einer absoluten Gleichheit von Gruppenidentitäten opfert" (S. 11.). Der Band will eine Auseinandersetzung mit den Folgen derartiger Positionen vorantreiben. Genau darum geht es auch im ersten Beitrag der Herausgeberin, der nicht nur die Entwicklung der angesprochenen Konzeptionen nachzeichnet, sondern sie auch einer Kritik hinsichtlich ihrer Polarisierungswirkung aussetzt. So verweist Köstner auf eine klare Rollenverteilung: "Die Freiheitsrechte der als privilegiert kategorisierten Personen sind der Herstellung von Gleichheit für die als Opfer eingestuften Individuen unterzuordnen" (S. 35). Dadurch solle nach der Autorin mit kritischem Blick die Freiheit der Individuen hinter die Gleichheit der Kulturen zurücktreten.

Der Band erschien in einer "Impulse"-Reihe, worin dem ersten Grundsatzbeitrag dann weitere Reflexionen folgen. Sie sind hier meist zustimmend und dann ergänzend gehalten. Besondere Aufmerksamkeit verdient bei den zwölf weiteren Beiträgen ein Text, worin die anti-liberale Dimension des gemeinten Projektes herausgearbeitet wird. Die Philosophin Dagmar Borchers betont, dass die Auffassung von Identitätspolitik antiindividualistisch, antipluralistisch, intolerant, statisch und vorschreibend sei. Damit zeigt sie anschaulich auf, dass das scheinbar so fortschrittliche Identitätsdenken eine freiheitsfeindliche Wirkung entfaltet. Andere Beiträge wie der von der Sozialwissenschaftlerin Heike Diefenbach nehmen aus empirischer Perspektive eine Prüfung von gruppenidentitären Vorstellungen vor. Und die Politikwissenschaftlerin Elham Manea zeigt, wie Islamisten von der Muslimbruderschaft das "weiße Schuldbewusstsein" in Schweden politisch instrumentalisierten. Außerdem gibt es einen Beitrag von Boris Palmer, dem grünen Oberbürgermeister von Tübingen.

Durch die meisten Beiträge des Sammelbandes zieht sich der Widerspruch, der gegen das Dominanzgebaren des identitätslinken Projektes gerichtet ist. Denn mit dem Anspruch, die Identität von angeblichen oder tatsächlichen Opfergruppen zu verteidigen, geht nicht selten ein antiindividualistischer Kollektivismus einher. Die Angehörigen der gemeinten Gruppen werden nicht mehr als Individuum, sondern als Gemeinschaftsmitglieder wahrgenommen. Dies läuft auf einen Freiheits- und Menschenrechtsrelativismus hinaus. Mitunter findet dieser wichtige Aspekt der Kritik nicht genügend Raum in der Wahrnehmung. Denn die einschlägigen Inhalte findet man in dem Sammelband schon. Die meisten Abhandlungen sind aber von einer starken Theorielastigkeit geprägt, einschlägige Fallbeispiele hätten das Gemeinte noch besser veranschaulicht. Denn hier hat man es mit Aufklärung im besten Sinne zu tun. Die Identitätslinke merkt gar nicht, wie sehr sie strukturell mit der Identitätsrechten übereinstimmt. Die Bezugsgruppen sind anders, der Kollektivismus nicht.

Sandra Kostner (Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart 2019 (ibidem-Verlag), 313 S., 22,00 Euro (eBook 14,99 Euro)

Unterstützen Sie uns bei Steady!