Der Darwin-Code für Kultur und Religion

Der Beginn der höheren Kunst wird mit der Höhlenmalerei angesetzt, deren früheste Beispiele auf ein Alter von 36.000 Jahren geschätzt werden. Für die verbreitete Ansicht, die steinzeitliche Kunst müsse religiöse Bedeutung gehabt haben, sieht die Referentin keine Veranlassung. Die bei Jägern und Sammlern auch heute noch nachweisbaren animistischen Vorstellungen einer beseelten Natur betrachtet sie nicht als „religiös“. Dieses Adjektiv sollte Vorstellungen von über- und allmächtigen Göttern vorbehalten sein. „Religion“ lässt sich in diesem Sinne erst lange nach dem 10.000 Jahre zurückliegenden Beginn des Neolithikums nachweisen. Der Übergang zu Sesshaftigkeit und Landwirtschaft, die Bildung größerer menschlicher Gemeinschaften sowie die Entstehung von Städten und Staaten schufen offenkundig erst die Voraussetzungen für Religion, und diese macht sich natürlich auch die Kunst zu Nutze.

Der Unterschied zwischen Kunst und Religion liegt darin, dass der Künstler für seine Geschichten und sonstigen Kreationen keine reale Existenz beanspruchen muss. Die Religion aber behauptet dies für zahllose Entitäten (Gott, Götter, Engel, Teufel, Dämonen) und diverse Seinszustände (Himmel, Hölle, Wiedergeburtenkreislauf). Die Ursache für diese Eigenart der Religion sehen die Referentin und ihr Co-Autor in der Entstehung sozial differenzierter Gesellschaften während der letzten Jahrtausende. Die paläolithischen Jäger-und-Sammler–Gruppen waren nicht vor das Problem gestellt, der großen Mehrheit ihrer Mitglieder begreiflich zu machen, warum sie sich trotz Schwerstarbeit mit dem Existenzminimum bescheiden müssen, während eine kleine Oberschicht von Aristokraten und Priestern exklusive Zugriffsmöglichkeiten auf Ressourcen aller Art erhält. In diesen paläolithischen Gruppen gab es ebenfalls soziale Hierarchien, aber nicht im Sinne eines Despotismus über rechtlose Untertanen, sondern mehr im Sinne des gewichtigeren Wortes eines besonders anerkannten Gruppenmitgliedes.

Die kommunikativen und Identität stiftenden Elemente der Kunst mussten also mit viel drastischeren Ansprüchen ausgestattet werden, um eine hochgradig sozial differenzierte Gesellschaft zu stabilisieren: Nämlich mit der Behauptung absoluter Wirklichkeit der erwähnten Existenzbehauptungen bezüglich transzendenter Machthaber sowie den von Ihnen verheißenen und angedrohten jenseitigen Schicksalsvarianten, um so eine Struktur extremer Ungleichheit durch machtvollen Wahrheitsanspruch und die Auslagerung kompensatorischer Ansprüche in ein angebliches „Leben nach dem Tode“ plausibel zu machen, von wo aus die Benachteiligten offenkundig keine Umverteilungsansprüche mehr stellen können.

Religion als „jüngere Schwester der Kunst“

Religion ist also kulturgeschichtlich die „jüngere Schwester der Kunst“. Kunst wird jetzt in Verbindung mit religiösen Aussagen betrieben, als Beispiel nannte Dr. Paul unter anderem den mittelalterlich-frühneuzeitlichen Kathedralenbau, über den man oft sehr respektvoll spricht, ohne freilich zu fragen, „wie viele Menschenleben dabei verschlissen wurden“.

Dieses Beispiel hätte die Referentin wohl besser noch um ein paar Sätze vertieft, denn hierzulande sind die Vorstellungen zu diesem Thema doch sehr durch „Säulen der Erde“-Romantik geprägt. Berechtigt ist die Bemerkung Sabine Pauls allemal, immerhin handelt es sich hier um die Bauwerke von Städten, die durch den Mangel an sanitären Anlagen und Leitsystemen oft Jahrhundertelang die reinsten Brutstätten für Seuchen waren. Es hätte sicher zweckmäßigere Einsatzmöglichkeiten für Bauhandwerker gegeben. Allerdings glaubten die Menschen unter dem Einfluss der Religion, Seuchen seien göttliche Strafen. Noch im 18. Jahrhundert empfanden manche christliche Geistliche Pockenimpfungen als Gotteslästerung.

Es wäre vielleicht auch hilfreich gewesen, darauf hinzuweisen, wie sehr sich das Christentum bereits im Neuen Testament als Stabilisator extrem hierarchischer und anspruchslimitierender Strukturen in Position zu bringen versucht. Man denke nur an dessen Aussagen zur Sklaverei (Lk 17, 1.Kor 7, Eph 6, Kol 3-4, 1.Tim 6, Tit 2, Phil, 1Petr 2; es lohnt sich, die Kapitel ganz zu lesen), die, entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil, eben keinen Fortschritt gegenüber damaliger Ethik darstellen (siehe z.B. die Stoiker). Wenn man bedenkt, dass die katholische Kirche noch zur Zeit der Geburt meiner Urgroßeltern (1883/1886) Sklaven in Brasilien besaß, kann man den Erfolg nur als überwältigend bezeichnen.

Aber auch ohne solches Vertiefungen war niemand mehr überrascht, wenn Dr. Paul mit dem Fazit schloss: „Wer Kunst und Wissenschaft hat, braucht keine Religion!“

Im Anschluss an den Vortrag, den die Referentin souverän, im Stehen, ohne Mikrofon und bis in die hinteren Reihen verständlich hielt und damit das Buch des Autoren-Duos überzeugend als empfehlenswerte Lektüre und interessantes Buchgeschenk aufzeigte, hatte das Publikum wie üblich Gelegenheit, Fragen zu stellen. Man interessierte sich vor allem dafür, wie gesichert das Alter der steinzeitlichen Kunstwerke ist und ob man wirklich eine teilweise Urheberschaft der Neandertaler ausschließen kann.

Zuletzt fand man sich noch, wie schon nach früheren Vortragsterminen, in geselliger Runde in einem nahegelegenen Restaurant ein.

 

 

Die Säkularen Humanisten Rhein-Main treffen sich wieder in Frankfurt am Main, am 29.05.2009 um 19:00 Uhr, im 2. Stock des wohlbekannten Club Voltaire, in der Kleinen Hochstraße Nr. 5.