Lehrer Italiens in Sachen Demokratie

(hpd) Der Jurist, Philosoph und Politologe Norberto Bobbio (1909-2004) gehörte zu den bedeutenden kritischen Denkern Italiens, den es im deutschsprachigen Raum mit seinen Auffassungen zu Demokratie und Individualität, Menschenrechten und Religion noch zu entdecken gilt.

Der Philosoph Otto Kallscheuer legt mit „Ethik und die Zukunft des Politischen“ eine Edition mit vier Texten des „Lehrers Italiens in Sachen Demokratie“ für den deutschen Leser vor.

„Papa laico“, den Papst für die Aufgeklärten, nannte man ihn: den italienischen Juristen, Philosophen und Politologe Norberto Bobbio (1909-2004). Seit Beginn der Nachkriegszeit begleitete er die politische Entwicklung in seinem Heimatland mit kritischen Kommentaren, die ebenso von geistigem Format wie intellektueller Unabhängigkeit geprägt waren. Bobbio wandte sich sowohl gegen den Dogmatismus der Kommunisten wie die Machtfixiertheit der Christdemokraten. Als liberaler Sozialist verband er dabei ein realistisches Politikverständnis mit einen moralischen Universalismus. In Deutschland fanden Bobbios Auffassungen bislang nur geringe Aufmerksamkeit. Dem entgegen wirken will der Philosoph Otto Kallscheuer, der zur Zeit an der Universität Sassari lehrt und einen Band mit Beiträgen von Bobbio für ein deutsches Publikum zusammenstellte. Er erschien mit einem Vorwort des Herausgebers unter dem Titel „Ethik und die Zukunft des Politischen“ und enthält vier thematisch unterschiedliche Texte vom „Lehrer Italiens in Sachen Demokratie“ (S. 10).

Der Aufsatz „Ethik und Politik“ von 1994 präsentiert eine Typologie für Ansätze über das Verhältnis von Moral und Politik: „Zunächst unterscheide ich die monistischen von den dualistischen Theorien und unterteile sodann die monistischen in einen strengen und einen flexiblen Monismus und die dualistischen in einen scheinbaren und einen echten Dualismus“ (S. 29). Bobbio will damit keine endgültigen Antworten zum Thema liefern, sondern Ordnung in die Reflexionen zum Spannungsverhältnis von Moral und Politik bringen. Der Beitrag von 1984 über „Die Zukunft der Demokratie“ enthält seine einflussreiche Minimal-Definition von Demokratie, widmet sich aber im Kern den sechs „nicht eingehaltenen Versprechen der Demokratie“ (S. 67), wobei aber auch die „Hindernisse“ (S. 83), thematisiert werden. Schließlich erinnert Bobbio an die entscheidenden Werte: „das Ideal der Toleranz“, „das Ideal der Gewaltfreiheit“, „das Ideal der schrittweisen Erneuerung der Gesellschaft über den freien Gedankenstreit“ und das „Ideal der Brüderlichkeit“ (S. 91).

Ein ganz anderes Thema behandelt der nächste Beitrag, der ebenfalls aus dem Jahr 1984 stammt und ein „Lob der Sanftmut“ (S. 93) enthält. Bobbio geht in dem Text auf das genaue Verständnis dieser Tugend, die „also keine politische Tugend“ (S. 114) ist, ein. Er beschreibt sie aber nicht als angenehme und unverbindliche Einstellung und Verhaltensweise, nimmt er doch eine klare inhaltliche Unterscheidung zu Gutmütigkeit, Mitgefühl, Nachgiebigkeit und Willfährigkeit vor. Und schließlich präsentiert Kallscheuer ein Gespräch mit Bobbio von 1999, das teilweise auch in der „Zeit“ abgedruckt war. Darin präsentiert sich der Philosoph der Aufklärung als selbstkritischer Denker: „Aber gerade als Mann der Vernunft weiß ich um die Grenzen der Vernunft, die nur einen winzigen Teil der Finsternis, die uns umgibt, aufklären kann“ (S. 122). Angesichts der Gewalt im Namen der Religion bemerkte er: „Darum sollte man das Motto des religiösen Menschen – ‚Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt!’ – umkehren: Nur wenn es Gott gibt, dann ist alles erlaubt“ (S. 121).

Kallscheuers Edition von Bobbio-Texten erinnert an einen ebenso interessanten wie streitbaren Denker, der im deutschsprachigen Raum immer noch „entdeckt“ werden muss. Auch wenn er als Redner im wörtlichen Sinne häufig mit ausgestrecktem Zeigefinger auftrat, war Bobbio kein Dogmatiker und Rechthaber. In seinen Betrachtungen findet man keine Ideallösungen. Dies mag manchen Leser enttäuscht, er sollte sich aber ganz im Sinne des italienischen Kantianers am „Selber-Denken“ ausrichten. Bobbio beschwor nicht die Merkmale einer besseren Gesellschaft, sondern die Regeln für deren Herausbildung. Er wandte sich dabei ebenso gegen die oligarchischen Gefahren für die bestehenden Demokratien wie gegen die unrealistischen Erwartungen an Formen der direkten Demokratie. Ein gewisser Pessimismus blieb dabei unverkennbar, es handelte sich aber um einen durchaus realistischen Pessimismus. Mit seinem Tod 2004 verlor Italien einen bedeutenden Denker und Kritiker, auch Deutschland könnte heute einen solchen Geist gut brauchen.

Armin Pfahl-Traughber

Norberto Bobbio, Ethik und die Zukunft des Politischen. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Otto Kallscheuer, Berlin 2009 (Verlag Klaus Wagenbach), 141 S., 10,90 €