Quantenwelt und Wirklichkeit

 

Während, wie Kumar erklärt, z. B. für Bohr und Heisenberg der Übergang vom „Möglichen“ zum „Tatsächlichen“ während des Beobachtungsaktes stattfand, es konsequenterweise also keine unabhängig vom Beobachter existierende Wirklichkeit gibt, war für Einstein der Glaube an eine beobachterunabhängige Wirklichkeit unabdingbar für die wissenschaftliche Tätigkeit.

Wie verfahren die Debatte - die der Autor in seinem Buch sehr ausführlich und über den gesamten Zeitraum, d.h. bis zu Einsteins Tod, dokumentiert - letztendlich war, wird vielleicht aus Bohrs Erwiderung auf Einsteins berühmt gewordenen Ausspruch: „Gott würfelt nicht“ deutlich. Bohr erwiderte: „Aber es kann doch nicht unsere Sache sein, Gott vorzuschreiben, wie er die Welt regieren soll.“

Während Einstein „Gott“ mit Naturgesetzlichkeit und Rationalität gleichsetzte, letztlich damit also einen persönlichen, unabhängig von den Naturgesetzen existierenden Gott ablehnte, hielt Bohr an jenem unverstehbaren Wesen fest, das die Welt nach eigenen willkürlichen Gesetzen regiert.

Die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik als „Evangelium“

Ein wesentlicher Aspekt in Kumars Buch ist seine Kritik am Absolutheitsanspruch der Quantenmechanik.

Die Kopenhagener Deutung war „als Quantenorthodoxie so fest etabliert“, „wie ein päpstliches Edikt aus Rom“, schreibt er und zitiert den Experimentalphysiker John Clauser: „Niemand, der nicht beruflich Selbstmord begehen wollte, wagte es die Kopenhagener Deutung in Frage zu stellen.“ „Unvoreingenommene Fragen zu den Wundern und Eigenheiten der Quantenmechanik“, die über die Kopenhagener Deutung (eine Interpretation der Quantenmechanik, die auf verschiedenen theoretischen Überlegungen zur Deutung der Quantenwelt beruht) hinausgingen, wurden „durch verschiedene religiöse Stigmata und soziale Zwänge praktisch verboten, die ihn ihrer Gesamtheit auf einen missionarischen Kreuzzug gegen derartiges Denken hinausliefen.“

Das sind Aussagen, die tatsächlich aufhorchen lassen. Ist es doch gerade der Anspruch, jederzeit offen für neue Erkenntnisse und Gedanken zu sein, sofern sie auf rational nachvollziehbaren Argumenten beruhen, der die Naturwissenschaften von religiösen Glaubensbekenntnissen unterscheidet.

Paradox vollständig oder rational unvollständig

Die Quantenmechanik „funktioniert“, das ist keine Frage. Sie formt, wie Kumar feststellt, unsere moderne Welt, indem sie alles ermöglicht – „vom Computer bis zur Waschmaschine, vom Handy bis zur Kernwaffe“.

Tatsache ist auch, dass die Unvollständigkeit der Quantentheorie experimentell nie nachgewiesen werden konnte, das gibt Kumar offen zu und dokumentiert er ausführlich bis hin zu den jüngsten Experimenten. Wozu er (bzw. die Position Einsteins) in seinem Werk jedoch letztlich auffordert ist, immer wachsam zu bleiben und die eigene Rationalität nicht einer Autorität zu unterwerfen, auch wenn diese in einer etablierten Theorie besteht. Deutlich wird, dass es immer bedenklich stimmen sollte, wenn eine Theorie für abgeschlossen und vollständig erklärt wird. Denn, wenn es kein kritisches Hinterfragen und keine Offenheit für neue Erkenntnisse mehr gibt, wird eine Theorie schnell zum Dogma und unterscheidet sich nicht mehr wesentlich von dem, was die Religionen bieten.
Erstaunlich ist in jedem Fall zu erfahren, wie bereitwillig hochintelligente Menschen lieber die rationale Deutung der Welt aufgeben, als ernsthaft zu erwägen, dass eine paradoxe Theorie, nach der wir mehrfach parallel existieren, gleichzeitig hier und dort, tot und lebendig sind, unvollständig sein könnte.

Fazit: Kumar ist es in seinem Werk nicht nur gelungen, die philosophischen Fragen und Konsequenzen der legendären Auseinandersetzung zwischen dem Verfasser der Relativitätstheorie und dem einflussreichsten Begründer der Quantentheorie differenziert darzustellen. Es ist ihm auch gelungen ein spannendes, lehrreiches, nachdenkenswertes und sogar bewegendes Buch über Inhalt und Geschichte einer Theorie zu schreiben, die “die Welt verändert hat”.

Anna Ignatius

Manjit Kumar: „Quanten“ - Einstein Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit -, Berlin, Berlin Verlag, 2009. 540 Seiten, ISBN-13: 978-3827004963, 28,00 Euro.