Eine „vernünftige“ Entscheidung des BVerfG?

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Einkaufspassage in Berlin / Fotos © Evelin Frerk

KARLSRUHE / FRIEDBERG. (hpd) Kommentar zum Urteil des BVerfG vom 1.12.2009 zur Zulässigkeit allgemeiner Ladenöffnung an allen Adventssonntagen in Berlin – BVerfG, 1 BvR 2857/07 vom 1.12.2009, Verfahren 1 BvR 2857/07 und 1 BvR 2858/07 . Querulatorisches Vorbringen gegen eine „vernünftige“ Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Sonntagsschutz?

Die am 1.12.2009 verkündete Entscheidung des BVerfG zu den großzügigen Berliner Ladenöffnungszeiten hat sofort große und positive Resonanz in den Medien, bei den Kirchen und Gewerkschaften erzeugt; Kritik ist vorerst kaum bekannt. Trotzdem erscheint aus staatsbürgerlicher Sicht eine Kritik angebracht. In diese Richtung geht auch die nur indirekt zu ermittelnde Ansicht immerhin dreier Verfassungsrichter, die nur im Schlusssatz der langatmigen Entscheidung auf S. 30 erwähnt wird. Sie halten die Verfassungsbeschwerden der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg bzw. des Erzbistums Berlin betr. das Berliner Ladenöffnungsgesetz vom 14.11.2006 für unzulässig, weil die Kirchen nicht befugt seien, solche Beschwerden zu erheben. Das sind Rechtsfragen, die Journalisten meist nicht interessieren, weil sie nach ihrer gefühlsmäßigen (und oft auch zutreffenden) Ansicht keiner erzählbaren Geschichte dient. Aber gerade hier sind oft die Knackpunkte von Bedeutung für das Verständnis des Geschehens; so auch hier.

Es ist kein Kunststück, in der Öffentlichkeit den Eindruck der Zufriedenheit mit einem Urteil zu bekunden, das der zusätzlichen Kommerzialisierung einer ohnehin kommerzträchtigen und ruhelosen Welt wenigstens teilweise einen Riegel vorschiebt. Es muss doch nicht sein, so eine einleuchtende Überlegung, dass in der Stadt Berlin, in der alle Geschäfte an allen Werktagen ohnehin 24 Stunden geöffnet haben dürfen, sie neuerdings auch an allen vier Adventssonntagen geöffnet haben dürfen, wenn auch nur von 13-20 Uhr. Kein anderes Bundesland kennt eine so exzessive Regelung. Und es mögen ja auch die Gewerkschaften recht haben mit dem Argument, die Regelung sei nicht nur unnötig, sondern schaffe auch keine zusätzlichen Arbeitsplätze. Man kann unschwer voraussagen, dass Berlin die Zahl der verkaufsoffenen Adventssonntage auf Grund der Entscheidung des BVerfG reduzieren wird. Ich vermute: um zwei, denn das dürfte das BVerfG wohl hinnehmen (vgl. Nr. 177 der Gründe). Das Gericht wird sich daher am Lob der Allgemeinheit ob einer vernünftigen, maßvollen und kommerzkritischen, darüber hinaus auch mit den kirchlichen Interessen konform gehenden Entscheidung erfreuen können.

Kompetenzüberschreitung des BVerfG ?

Aber es geht nicht nur um das Lob einer im praktischen Ergebnis sinnvoll erscheinenden Entscheidung. Es stellt sich nämlich die Frage, ob das BVerfG nicht wieder – wie schon so oft – seine Kompetenz überschritten und praktische Politik betrieben hat: Wirtschaftspolitik und Religionspolitik. Dafür ist schon der außergewöhnliche Umfang der keineswegs pressegerechten Presseerklärung zum Urteil ein Indiz.

Juristisch ist bereits von entscheidender Bedeutung, ob einer Religionsgemeinschaft ein Grundrecht zum Schutz der Sonn- und Feiertage (in welchem Umfang auch immer) überhaupt zustehen kann. Der Text des in das Grundgesetz (GG) übernommenen Art. 139 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) besagt lediglich, dass der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage „als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung geschützt sind.“ Das bedeutet nach bis vor kurzem allgemeiner Ansicht einen allgemeinen gesetzlichen Schutz mit anerkannt weitem Spielraum des Gesetzgebers.

Art. 139 WRV als solcher ist demnach lediglich eine sogenannte Institutsgarantie. In seiner Entscheidung zum Buß- und Bettag hat eine Kammer desselben 1. Senats es daher 1995 für selbstverständlich gehalten, dass die Abschaffung eines speziellen religiösen Feiertags auch bei Berufung auf Art. 4 GG kein subjektives Recht auf seine Beibehaltung verletzt. Die Kammer hat die Sache daher nicht zur Entscheidung angenommen. Über die Rechtslage könnten keine ernsthaften Zweifel bestehen. Jetzt soll das plötzlich anders sein.

Urzeugung eines Grundrechts aus juristischem Nebel

Zwar, so das Gericht aber jetzt, enthält die grundsätzliche Garantie des Sonntagsschutzes kein Grundrecht, das ein Bürger oder eine Religionsgemeinschaft einklagen kann (Nr. 122). Auch die Garantien der Religions- und Weltanschauungsfreiheit für sich genommen geben keiner Religionsgemeinschaft das Recht, ihr subjektives Verständnis von Sonn- und Feiertagsschutz durchzusetzen (Nr. 137). Das Gericht hat aber die schlaue professorale Idee aufgegriffen, aus der Kombination beider (je unzureichender) Vorschriften ergebe sich ein individueller Schutzanspruch einer Religionsgemeinschaft. Das ist eine Art Urzeugung eines Grundrechts aus juristischem Nebel, den das Gericht reichlich geschaffen hat. Es spricht vom „Überwirken“ der objektivrechtlichen Schutzgarantie des Art. 139 WRV/140 GG „im Sinne einer Konkretisierung und Stärkung des Grundrechtsschutzes“ (Nr. 121). Dabei lässt Art. 139 WRV keinerlei spezifische Verbindung zu individualisierbaren Trägern eines subjektiven Rechts erkennen.

 

Interessanterweise sieht das Gericht erklärtermaßen schon bei der Zulässigkeitsprüfung eine konkrete Betroffenheit der beiden Kirchen durch die Neuregelung, obwohl die Kirchen gar nicht Adressaten der Regelung sind, religiöse Veranstaltungen nicht beeinträchtigt werden und auch an Adventssonntagen der Vormittag als hauptsächliche Gottesdienstzeit vom Ladenverkauf freigehalten wird. Eine - für die Verfassungsbeschwerde notwendige - Selbstbetroffenheit liege darin, „dass sich durch die in Rede stehenden Ladenöffnungszeiten generell der Charakter der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe, aber auch der Besinnung verändert, weil diese Tage auch in ihrer Ganzheit als Tage der Ruhe und der seelischen Erhebung religiöse Bedeutung für die Beschwerdeführer haben („… am siebten Tage sollst Du ruhen, ...“; vgl. in der Bibel Ex 23, 12; dazu weiter Dtn 5, 12-14 und in den Zehn Geboten Ex 20, 8-11).“

Sind mit der skizzierten Vorgehensweise alle Hindernisse für eine Prüfung des Gesetzesinhalts beseitigt, so braucht man nur noch zu begründen, dass die Ladenöffnung an allen vier Adventssonntagen von 13-20 Uhr in den Kernbereich der Sonntagsgarantie eingreift, auch dann, wenn an mindestens 44 Sonntagen keine allgemeine Ladenöffnung zugelassen ist. Verständlich, dass das Gericht dazu sehr viele Seiten benötigt.

Im Zweifel für die Kirche?

Ärgerlich an dem Urteil ist: Seine Lektüre verstärkt wiederum den Eindruck, es gelte nach wie vor der Grundsatz „in dubio pro ecclesia“ (im Zweifel für die Kirche). Die Entscheidung lässt an einzelnen Stellen auch klar erkennen, dass die Förderung christlicher Tradition dem Senat nicht fern liegt. Dem Sonn- und Feiertagsschutz wird sogar eine religiöse Teilkomponente zuerkannt. Vergessen wird die alte Erkenntnis des BVerfG, dass alle Verfassungsbegriffe im nur weltlich legitimierten Staat nur säkular verstanden werden dürfen, auch wenn der Staat auf Religion und Weltanschauung – gleichberechtigt – Rücksicht nimmt. Zu solchen Überlegungen kommt freilich nur, wer das Urteil liest. Das ist aber bei dieser ausufernden nebelartigen Darstellung für rechtliche Laien fast unzumutbar. So bleibt der Eindruck: eine prima Entscheidung, die dem Weihnachtskommerz Schranken setzt. Das wäre aber Sache des Landes Berlin und nicht des BVerfG. Das alles sind keineswegs Petitessen.

Gerhard Czermak

Gerhard Czermak ist Autor des kürzlich bei Alibri erschienenen Lexikons „Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht“. Siehe dazu hpd-Interview und denkladen-Produktinformation.