„Gotteswahn 2009“

Das „Gebetsraum-Urteil“, das keines war

Ende September entschied das Berliner Verwaltungsgericht, dass es einem muslimischen Schüler nicht verwehrt werden kann, während des Schulbesuchs „außerhalb der Unterrichtszeit einmal täglich sein islamisches Gebet zu verrichten.“ Da die Schulleitung dem Schüler zum Beten einen gesonderten Raum zugewiesen hatte, wurde dieses Urteil in den Medien fälschlich als „Gebetsraum-Urteil“ bekannt und der Eindruck erweckt, der Schüler habe sich das Recht auf einen speziellen Gebetsraum erstritten. Dabei hatte das Gericht im Urteilstext sogar ausdrücklich darauf hingewiesen: „In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich zu betonen, dass weder der Kläger einen Anspruch auf einen Gebetsraum erhoben noch das Gericht [...] die Schule zur Bereitstellung eines entsprechenden Raumes verpflichtet hat.

Bemerkenswert waren in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen der Schulleiterin, da sie völlig entgegengesetzt zu der Argumentation im Fall Korschenbroich (s.o.) waren: Während in Nordrhein-Westfalen die Ministerin argumentierte, es sei nicht hinzunehmen, dass den Schülern ein freiwilliges Gebet vorenthalten werde, sorgte sich in Berlin die Schulleiterin, andere Schüler könnten dies „als demonstratives Beten verstehen“. Außerdem gäbe es auch atheistische Schüler, die nicht mit dem Gebet konfrontiert werden wollten.

Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Am 3. November urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass das obligatorische Anbringen von Kreuzen in (italienischen) Schulklassen unzulässig ist. Damit entschied er nicht anders als das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem Kruzifix-Urteil 1995. Es müsste eigentlich auch jedem klar sein, dass das Anbringen von religiösen Symbolen im Klassenraum die weltanschauliche Neutralität des Staates verletzt.

Der katholische CSU-Bundestagsabgeordnete Johannes Singhammer allerdings hält das Urteil für ein „klassisches Fehlurteil“ und glaubt warnen zu müssen: „Das Bekenntnis zum Atheismus darf nicht privilegiert und die christlichen Glaubensinhalte nicht diskriminiert werden.“

Spiegel Online kommentierte diese "Katholiken-Logik“ so: „Für Singhammer ist das Nicht-Vorhandensein eines Kreuzes ein Symbol des Nichtglaubens und diskriminiert somit alle Gläubigen. Verstanden? Sonst bitte sacken lassen.

Der österreichische FPÖ-Abgeordnete im EU-Parlament Franz Obermayr meint gar, jetzt „wird es für Christen in Europa sehr ernst“. „Den Europäischen Richtern ist es wohl nicht bewusst, dass sie damit in die Hand eines radikalen Islams arbeiten“. In einer TV-Sendung verstieg sich Ignazio La Russa – immerhin Italiens Verteidigungsminister – gar zu der Aussage: „Sollen sie [die Kreuzgegner] doch sterben“.

Nach solcher Hetze war es nur eine Frage der Zeit, bis es zu Drohungen, Wandschmierereien und sogar zur Explosion einer „Papierbombe“ kam.

Bischof Mixa empfahl Politikern, das Urteil „schlichtweg zu ignorieren“. Auf die Nachfrage, ob es nicht problematisch sei, zum Ignorieren einer Gerichtsentscheidung aufzurufen, verkündete Bistumssprecher Dirk-Hermann-Voss, hier gelte: „Zuerst Katholik und danach Staatsbürger.“ „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Mixa ist übrigens auch Militärbischof und damit für die berufsethische Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten verantwortlich.
 

Der Gotteswahn ist real

Die obigen ausgewählten Beispiele – alle aus diesem Jahr –, belegen einen durchaus realen „Gotteswahn“: Solche Christen – nicht zuletzt Bischöfe und Politiker – nehmen bestimmte Realitäten entweder verzerrt wahr oder stellen sie bis zur Absurdität verzerrt dar. Im ersten Fall erfüllen sie damit das „Wahnkriterium“ (Festhalten an einer falschen Vorstellung trotz gegenteiliger Belege), im zweiten Fall müssen sie sich vorhalten lassen, das gesellschaftliche Klima zu Lasten von Nichtchristen und Atheisten zu vergiften.

Dawkins und Hitchens haben Recht. Solange solche Christen – gerade diejenigen in wichtigen Positionen – Menschenrechtsverletzungen nicht einmal wahrhaben wollen, auch wenn sie von höchsten Gerichten darauf hingewiesen werden, muss Religion als gefährlich gelten und kritisiert und veralbert werden dürfen.

Die Buskampagne hatte übrigens im Dezember noch ein „Nachspiel“: In Frankfurt wollte die evangelische Kirche in der U-Bahn „auf den christlichen Hintergrund der Advents- und Weihnachtszeit hinweisen“. Allerdings hatte die Verkehrsgesellschaft Frankfurt im März religiöse Werbung untersagt – also „rein zufällig“ gerade, als die Buskampagne ihre Spendenaktion gestartet hatte. Ein Antrag, „Einzelfallentscheidungen“ zuzulassen, wurde im Stadtparlament zunächst abgelehnt. In Zukunft sollen aber jetzt offenbar doch Einzelfallprüfungen erfolgen. Für dieses Jahr kommt diese Entscheidung allerdings zu spät.