Jenseits von Kompatibilismus und Inkompatibilismus
Mithilfe dieser etwas „exotischen“ Argumentation habe ich in JvGuB aufzeigen können, dass Determinismus (Prinzip: Keine Wirkung ohne Ursache!) sehr wohl mit „Freiheit“ zu vereinbaren ist, allerdings nur mit interner bzw. externer Handlungsfreiheit (Freiheit von Zwängen), nicht aber mit Willensfreiheit (Freiheit von Ursachen)! Wer diese Differenz nicht nachvollziehen kann, sollte sich den Unterschied von Ursachen und Zwängen bewusst machen: Wir erleben keineswegs alle Ursachen als Zwänge, sondern nur jene, die merklich im Widerspruch zu unseren Wünschen stehen. Das, was wir „Freiheit“ nennen, besteht nicht in einem wie auch immer gearteten „Ursachenlosigkeit unseres Willens“ (abgesehen davon, dass dies einem „Wunder“ gleichkäme, was würden wir lebenspraktisch durch eine solche „Ursachenlosigkeit“ gewinnen?!), sondern in der Abwesenheit von konkreten Zwängen, die uns daran hindern, unseren Willen in die Tat umzusetzen.
Bezogen auf die philosophische Debatte, ob Determinismus mit Freiheit nun kompatibel ist oder nicht, beziehe ich also eine Mittlerposition jenseits der traditionellen Fronten von Kompatibilismus und Inkompatibilismus: Ich bin eindeutig Kompatibilist in Bezug auf Handlungsfreiheit (dies ist, um es noch einmal zu wiederholen, die durchaus mögliche Freiheit von Zwängen!). Zugleich aber bin ich ebenso eindeutig Inkompatibilist in Bezug auf die klassische Idee der Willensfreiheit (die bereits logisch unmögliche Freiheit von Ursachen!).
In „Jenseits von Gut und Böse“ bin ich auf den philosophischen Kompatibilismusstreit nicht eingegangen, da er, so populär er unter akademischen Philosophen auch sein mag, meines Erachtens nicht geeignet ist, die entscheidenden Probleme zu lösen. Im FAQ zum Buch habe ich meine Position in dieser Frage jedoch klar erläutert. Andreas Müller, der in seiner Artikelserie aus diesem Dokument zitiert, sollte also wissen, dass ich definitiv kein Inkompatiblist bin, sondern vielmehr ein Konzept jenseits dieses irreführenden Dualismus vertrete. Dennoch ordnet er mich in seiner Artikelserie erstaunlicherweise in die Schublade des Inkompatibilismus ein, wodurch er mit einigem Tamtam einen rhetorischen Pappkameraden aufbaut, gegen den er in der Folge wortreich ankämpft, wobei er offenbar gar nicht bemerkt, dass er sich in seiner Kritik am Inkompatibilismus fast durchgängig der Argumentation bedient, die ich in meinem Buch entfaltet habe.
Ich unterstelle Andreas Müller, den ich als Autor und Mensch wertschätze, keineswegs unlautere Absichten, doch ich war bei der Lektüre seiner Artikelserie einigermaßen verblüfft, wie häufig er Argumente, die sich haargenau so in „Jenseits von Gut und Böse“ finden, dazu verwendet, um Positionen zu kritisieren, die sich in „Jenseits von Gut und Böse“ eben nicht finden lassen! Ein Teil dieser (offenbar unbewusst) geborgten, vermeintlichen „Gegenargumente“ betrifft Lappalien, etwa die Feststellung, dass man die vom Forschungsdesign her problematischen Versuche Libets nicht überbewerten sollte (siehe JvGuB, S.112) oder dass es der modernen Hirnforschung nicht bedurft hätte, um die klassische Idee der Willensfreiheit zu verabschieden (s. JvGuB, S.120f.). Teilweise betrifft AMs Pseudokritik jedoch relevantere Sachverhalte, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.
Die Bedeutung bewusster Entscheidungen
So meint Andreas Müller, ich würde als vermeintlicher „Inkompatibilist“ die Bedeutung bewusster Entscheidungsprozesse unzulässig herunterspielen. Deshalb denkt er, „etwas sehr Offensichtliches feststellen“ zu müssen, da es angeblich „Leute“ gebe, „die es bezweifeln“: „Wir treffen Entscheidungen, die wir bewusst treffen, bewusst – wenn wir eine bewusste Entscheidung treffen, bemerken wir das schließlich. Eben das ist ja Bewusstsein! Wenn ich über ein philosophisches Problem nachdenke, dann denke ich bewusst über ein philosophisches Problem nach. Wir wissen ganz genau, was wir bewusst alles tun und denken, eben weil wir es bewusst tun und denken.“
Man fragt sich bei der Lektüre dieser Stelle schon, was das denn für merkwürdige Leute sein sollen, die etwas so Offensichtliches wie die Existenz bewusster Entscheidung „bezweifeln“! Ich zumindest kenne niemanden, der Derartiges tun würde! Was AM hier wohl meint, ist nicht die schwerlich in Zweifel zu ziehende Erfahrung bewusster Entscheidungsprozesse, sondern vielmehr die Frage, welche Rolle sie in unserem Leben spielen. Mit dem Hinweis darauf, dass ich in JvGuB die neurologische Schätzung zitiere, dass nur 0,1 Prozent unserer Gehirnaktivitäten ins Bewusstsein vordringen, erzeugt AM dabei den falschen Eindruck, ich würde bewusste Denkoperationen als mehr oder weniger bedeutungslos erachten. Und damit stehen wir schon vor dem nächsten rhetorischen Pappkameraden, gegen den sich unser Kritiker mit allem aufklärerischen Impetus zur Wehr setzt („Habe Mut, deinen eigenen Verstand zu vergessen!“)
In Wahrheit freilich spiele ich die Bedeutung bewusster Denkhandlungen keineswegs herunter, im Gegenteil, ich zeige sogar auf, dass es ein grober Fehler wäre, sie in reduktionistischer Weise als bloße Epiphänomene unbewusster neuronaler Aktivitäten zu betrachten! Bewusste Denkoperationen sind nämlich, wie ich dargelegt habe, ein besonderes Werkzeug des Gehirns, das zwei wesentliche Funktionen hat: Erstens gewährleistet es, dass wir unser „virtuelles Selbst“ aufrechterhalten können, das notwendig ist, um sich in komplexen Gruppenzusammenhängen zurechtzufinden. (Ohne die virtuelle Inszenierung eines eigenen Selbst sowie anderer Selbste wäre es uns nämlich nicht möglich, Interaktionen mit anderen gedanklich vorwegzunehmen und auf dieser Basis vernünftige Entscheidungen zu treffen, siehe JvGuB, S. 133ff.) Zweitens kommt dieses besondere Werkzeug bewusster Denkoperationen besonders dann zum Einsatz, wenn wir mit Problemen konfrontiert werden, für die noch keine erfolgreichen, automatisierten Lösungen vorliegen (siehe JvGuB, S. 140f.). (Ein gutes Beispiel hierfür ist das Einüben eines neuen Klavierstücks, das erst nach einiger Zeit automatisch „fließt“).
Da bewusste Denkoperationen nicht nur vergleichsweise langsam sind, sondern auch mit einem erhöhten Energieverbrauch einhergehen, versucht das Gehirn, sie, so gut es irgend geht, zu vermeiden (siehe JvGuB, S.131ff.). Dies wiederum erklärt, warum nur 0,1 Prozent der Hirnaktivitäten bewusst wahrgenommen werden. Alles andere wäre in der Tat „reine Energieverschwendung“, wie nicht nur Andreas Müller meint, sondern auch in JvGuB geschrieben steht.
Ins argumentative Abseits läuft AM auch mit seinem emphatischen Argument für die (von mir natürlich niemals bestrittene!) Wirksamkeit der Aufklärung: „Deterministen sagen, dass unsere Entscheidungen Resultat sind von kausalen Ursachen – Rationalität, Selbstkontrolle und Selbstreflexion können jedoch genau diese Ursachen darstellen!“ Jawohl, so ist es, lieber Andreas! Und genau das habe ich in JvGuB ausführlich dargelegt! Wer’s nicht glauben mag, sollte sich etwa die Seiten 138ff. anschauen, wo ich erkläre, dass ideelle Gründe sehr wohl als Ursachen, d.h. als materielle Voraussetzungen für reale Wirkungen, begriffen werden können. Und weil Gründe wirksame Ursachen für Verhalten sein können, sind, wie ich schreibe, die ins Bewusstsein vordringenden 0,1 Prozent der Gehirnaktivitäten „für unsere Verhaltenssteuerung unerlässlich“ (JvGuB, S.141). AMs Erzählung von der angeblichen Bedeutungslosigkeit des Bewusstseins geht also meilenweit an der Realität meines Ansatzes vorbei!
Übrigens: Würde ich, wie Andreas Müller meint, die menschliche Vernunftfähigkeit tatsächlich „in den Hintergrund rücken“, so wäre es ein geradezu törichtes Unterfangen, weiterhin Philosophie zu betreiben! Denn warum auch sollten wir damit fortfahren, über rationale Gründe streiten, wenn diese keine nennenswerten Wirkungen in der Wirklichkeit entfalten könnten?! Ich würde mir also selbst (und auch der Aufklärungsarbeit der Giordano Bruno Stiftung) jegliche Existenzgrundlage entziehen, wenn ich tatsächlich die Positionen vertreten würde, die Andreas Müller mir unterstellt!