Wege aus dem Labyrinth (1)

Die Grenzen biologischer Deutungsmuster

Tatsächlich messe ich der lebenspraktischen Wirksamkeit von Gründen sogar eine weit größere Bedeutung zu als mein Kritiker, der in diesem Punkt, wie ich meine, allzu sehr den reduktionistischen Deutungsmustern eines bestimmten Zweigs der evolutionären Psychologie folgt. Die evolutionäre Psychologie (bzw. Soziobiologie) hat zwar unbestritten große Erkenntnisfortschritte erbracht, indem sie aufzeigte, wie sehr das menschliche Verhalten, ja die menschlichen Kulturentwicklung insgesamt, von biologisch evolvierten Überlebensstrategien bestimmt ist. (Da selbst Biologen wie etwa der Leiter des Museums für Naturkunde Berlin, Prof. Reinhold Leinfelder, mir gegenüber den „Biologismus-Vorwurf“ erheben, dürfte ich einigermaßen unverdächtig sein, die Relevanz biologischer Prinzipien für unser Verhalten herunterzuspielen!) Doch so bedeutsam und stimmig die Konzepte der evolutionären Psychologie auch sind, sie sind keineswegs hinreichend, wenn es darum geht, die tatsächlichen Dimensionen menschlicher Kultur, menschlichen Verhaltens (und hier insbesondere die lebenspraktische Wirksamkeit von Gründen) zu begreifen!

Denn Gründe spielen in der biologischen Evolution, wenn überhaupt, nur eine höchst marginale Rolle, sind jedoch zugleich in der menschlichen Kulturevolution von eminenter Bedeutung (was nicht heißt, dass „gute Gründe“ allein die Richtung vorgeben, in die sich menschliche Kulturen entwickeln – davon gehen nur hoffnungslos naive, aufklärerische Utopisten aus!). Worauf ich hinaus will: Mit biologischen Deutungsmustern alleine lassen sich kulturelle und damit verknüpft auch innerpsychische Phänomene nicht hinreichend erklären. Warum dies so ist? Weil Kultur ein „emergenter Prozess“ ist, der eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, welche über biologische Faktoren alleine nicht vollständig erfasst werden können…

Im zweiten Teil dieser Replik, der in wenigen Tagen auf hpd erscheinen wird, erfahren Sie, was man sinnvollerweise unter dem schillernden Begriff „Emergenz“ verstehen sollte, warum Leben tatsächlich mehr ist als bloße Physik und warum Mr. Data trotzdem nicht befürchten muss, in der „Schrottpresse“ zu landen. Dabei werden wir feststellen, dass man im „Labyrinth der Willensfreiheit“ doch einige Wegbiegungen mehr in Kauf nehmen muss, als Andreas Müller meinte. Eigentlich sollte dies auch niemanden überraschen: Denn wer schon einmal in einem ordentlichen Labyrinth war, der weiß, dass der gleich im ersten Moment offensichtlich erscheinende Weg in der Regel nicht zum Ausgang führt, sondern in eine Sackgasse.

Um in die Nähe des Ausgangs zu gelangen, müssen zunächst einige knifflige, theoretische Probleme gelöst werden, die AM in seiner Artikelserie völlig übersehen hat. Vor einer expliziten Auseinandersetzung mit dem schwersten dieser Probleme (dem Emergenz- bzw. Reduktionismus-Problem) habe ich mich in „Jenseits von Gut und Böse“ noch gedrückt, aber dies scheint mir nach der Kritik von Andreas Müller (und den in ihr enthaltenen Missverständnissen) ein bedauerlicher Fehler gewesen zu sein. Mehr dazu in wenigen Tagen, wenn es nach den vergleichsweise harmlosen Lockerungsübungen dieses 1. Teils „so richtig zur Sache“ gehen wird...

Michael Schmidt-Salomons Artikelserie:

Der zweite Teil der Replik „Wege aus dem Labyrinth (2)
Der dritte Teil der Replik „Wege aus dem Labyrinth (3)"

 

Andreas Müllers Artikelserie über die Willensfreiheit:

Teil 1: Im Labyrinth der Willensfreiheit
Teil 2: Abschied von der Willensfreiheit
Teil 3: Das Marionettentheater
 

FAQ zu „Jenseits von Gut und Böse“ (MSS)
 

Der jüngste Biologismus-Vorwurf von Prof. Dr. Reinhold Leinfelder