Eine persönliche Bilanz
Diese dreiteilige Replik begann mit einem Dank an Andreas Müller – sie soll auch mit einem Dank an ihn enden! Denn er hat mich durch seine Artikel-Serie dazu genötigt, endlich das zu tun, wovor ich mich so lange Zeit gedrückt habe, nämlich einen Mechanismus zu beschreiben, der die reale (nicht bloß scheinbare!) Wirkung emergenter Prozesse (etwa des Abwägens von Gründen) erklärt, ohne dabei die erfolgreichen Grundprinzipien des naturwissenschaftlichen Weltbildes zu sprengen.
Meine diesbezüglichen Überlegungen entsprechen weitgehend dem Konzept des „emergentistischen Materialismus“, das Mario Bunge und Martin Mahner in ihrem Buch „Über die Natur der Dinge“ überzeugend darstellten (siehe hierzu auch meine lobende Rezension in der Philosophiezeitschrift „der blaue reiter“). Vielleicht mag es einige überraschen, dass ich mich selbst im Spektrum des „Materialismus“ verorte, denn immerhin hatte Andreas Müller ja erklärt, dass ich in Wirklichkeit gar kein „Materialist“ sei. Ich muss leider zugeben, dass ich dieses Missverständnis selbst verbockt habe. Tatsächlich hatte ich nämlich in einer Talkshow gesagt, ich sei kein „Materialist“. Allerdings bezog sich dies in der damaligen Gesprächssituation auf die weit verbreitete Vorstellung eines „Vulgär-Materialismus“, der meint, emergente Phänomene ausblenden zu können! Besser wäre es gewesen, ich hätte zwischen einem umgangssprachlichen, einem reduktionistischen, einem dialektischen und einem emergentistischen Materialismus differenziert, was jedoch im Rahmen einer Talkshow nur sehr schwer möglich ist! (Aus diesem Grund ziehe ich es gewöhnlich auch vor, den Begriff „Naturalismus“ zu verwenden, der insgesamt weniger automatische Fehlinterpretationen provoziert als der ideologisch arg strapazierte Begriff des „Materialismus“!)
Zurück zum Thema: Wenn der „emergentistische Materialismus“ im Grunde bereits korrekt beschreibt, wie es in der Natur zu neuen, emergenten Eigenschaften kommt, wo liegt dann noch das Problem, vor dem ich mich so lange drückte? Nun, die mir bekannten Ansätze legten zwar dar, dass emergente Prozesse aufgrund ihres höheren Organisations- oder Informationsgrades („Information“ ist keine außer-physikalische Kraft, sondern bezeichnet das „In-Formation-Gebrachtsein“ der Dinge!) nicht vollständig auf basale physikalische Prozesse zurückgeführt werden können. Sie erklärten für mich aber nicht in befriedigendem Maße, auf welche Weise emergente Prozesse ihren „Fußabdruck“ in der physikalischen Welt hinterlassen. Eine solche „abwärtsgerichtete Verursachung“ ist aber notwendig, um emergenten Prozessen überhaupt eine reale Bedeutung in der Welt zuweisen zu können (siehe hierzu u.a. Jaegwon Kim: Emergenz: Zentrale Gedanken und Kernprobleme. In: Thomas Metzinger (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes, Bd. 2, S. 314ff.).
Durch diese Notwendigkeit einer „abwärtsgerichteten Verursachung“ entsteht ein ernsthaftes theoretisches Problem, das auf mich lange Zeit als nahezu unlösbar wirkte: Denn um in sich konsistent zu sein, müsste ein naturalistisches Emergenz-Modell zwei Bedingungen erfüllen, die sich (zumindest auf den ersten Blick!) diametral zu widersprechen scheinen: Emergente Prozesse müssten nämlich reale Wirkungen in der physikalischen Welt hervorrufen, die nicht vollständig auf die vier Grundkräfte der Physik (Gravitation, starke, schwache, elektromagnetische Wechselwirkung) zurückgeführt werden können. Um aber eine solche Wirkung auf physikalischer Ebene überhaupt entfalten zu können, müssten diese emergenten Prozesse zugleich zwingend in Form der vier Grundkräfte der Physik auftreten, da uns nun einmal keine weiteren physikalischen Kräfte bekannt sind.
Ich muss gestehen, dass mir die scheinbare Unvereinbarkeit der beiden Grundbedingungen eines naturalistischen Emergenz-Modells mitunter regelrecht den Schlaf raubte. Irgendwie ahnte ich zwar, wie die Lösung aussehen könnte, aber es gelang mir beim besten Willen nicht, diese Ahnung in einer halbwegs nachvollziehbaren Weise auf den Begriff zu bringen! In gewisser Weise half mir dann ein Zufall weiter: Durch eine erneute intensive Beschäftigung mit der Evolutionstheorie im Zuge des Darwin-Jahrs und ein Gespräch über die möglichen Besonderheiten der „evolutionären Logik“ kam mir der Gedanke, dass die „abwärtsgerichtete Verursachung“ vielleicht im Sinne des darwinschen Selektionsprinzips interpretiert werden könnte. Dies würde, wie ich meinte, die Rückwirkung emergenter Systeme erklären können, ohne dass wir hierfür irgendwelche neuen physikalischen Grundkräfte postulieren müssten! Je mehr ich diese erstaunlich einfache und elegante Hypothese überprüfte, desto fruchtbarer erschien sie mir. Aber dies allein hätte mich ganz sicher noch nicht dazu gebracht, eine solche, weitgehend unausgereifte Idee zu veröffentlichen. (Immerhin war mir ja durchaus bewusst, in welches weltanschauliches Wespennest ich mit der Hypothese einer evolutionär bedingten Makrodetermination stechen würde!)
Doch dann kam Andreas Müller! Im Grunde vertrat er in seiner Artikel-Serie Positionen, die man in ähnlicher Weise auch bei anderen naturalistisch denkenden Autoren finden kann. Aber er schrieb die Texte (anders als die meisten anderen) in einer sehr kompromisslosen, geradezu apodiktisch wirkenden Sprache. Dies ist nun einmal seine Art, die Dinge zu formulieren: Er kämpft stets mit offenem Visier, ohne all die rhetorischen Vorsichtsmaßnahmen, die sonst im akademischen Diskurs üblich sind (vernebelnde Relativierungen, undurchsichtige Sprachpanzerungen etc.). Die Klarheit seiner Positionierung ist eine Eigenschaft, die ich sehr an AM schätze, denn dadurch kann man sehr schnell feststellen, ob man seinen inhaltlichen Argumenten zustimmen kann oder nicht. In diesem besonderen Fall sorgte die Klarheit seines Auftretens dafür, dass die Unklarheit der metatheoretischen Positionen, die er vertrat, in besonderem Maße deutlich wurde. Wenn ich einen Artikel gesucht hätte, an dem ich die diversen Probleme des eliminatorisch-reduktionistischen Ansatzes idealtypisch hätte studieren können, ich hätte kaum einen besseren Text finden können!
Durch AMs Ausführungen wurde mir noch einmal schmerzlich bewusst, dass die naturalistische Argumentation ohne ein ausgefeiltes Konzept von Emergenz niemals Anschluss an die (ja keineswegs komplett unsinnigen!) Diskurse finden kann, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften stattfinden. AMs ebenso logisches wie verblüffendes Eingeständnis (siehe die Debatte im hpd-Forum), dass er letztlich nur deshalb Religionskritiker sei, weil die physikalischen Grundkräfte (Gravitation, starke, schwache und elektromagnetische Wechselwirkung) dies erzwingen, würde in geistes- und sozialwissenschaftlichen Kreisen wohl eher als Ausdruck einer ernstzunehmenden, psychischen Störung gewertet werden – statt als Zeugnis einer gefestigten wissenschaftlichen Weltsicht! Es war also offensichtlich, dass wir dringend Brückenprinzipien brauchen, mit deren Hilfe wir den Graben zwischen den Natur- und Kulturwissenschaften überwinden können.
In meiner Schrift „Auf dem Weg zur Einheit des Wissens“ hatte ich bereits versucht, an einer solchen Brücke zu arbeiten, doch ohne ein naturalistisch stimmiges Verständnis von Emergenz fehlte ein wichtiger Stützpfeiler. Deshalb bin ich Andreas Müller wirklich dankbar (jetzt im Nachhinein – zwischendrin habe ich ihn eher dafür verflucht, dass er mir soviel Arbeit macht!) dass er mich dazu gezwungen hat, über die Beschaffenheit eines solchen Stützpfeilers noch einmal gründlicher nachzudenken.
Die Konstruktion dieses Stützpfeilers verlangt, wie ich gezeigt habe, keineswegs, dass wir uns von naturalistischen Grundprinzipien verabschieden müssten. Das Einzige, was von der naturalistischen Seite in diesem Kontext verlangt wird, ist eine Überwindung des eliminatorischen „Nichts-weiter-als“-Syndroms, welches in Naturalistenkreisen leider stark verbreitet ist! Statt weiterhin zu behaupten, dass kognitive Überlegungen „nichts weiter“ seien als neurobiologische oder gar physikalische Prozesse, sollten wir uns also auf die nüchterne Feststellung beschränken, dass jede Abwägung von Gründen notwendigerweise von entsprechenden physikalischen und neurobiologischen Prozessen hervorgerufen wird. Dass physikalisch beschreibbare Prozesse die notwendige Voraussetzung für emergente Prozesse (etwa das Abwägen von Gründen) bilden, kann man schwerlich von der Hand weisen! Doch warum sollte diese notwendige Voraussetzung zugleich auch eine hinreichende sein?
Wir stehen hier nicht vor der Entscheidung zwischen einem „Nur-Physikalismus“ (eliminatorischer Reduktionismus), der ausschließlich (!) physikalische Prozesse berücksichtigt, und einem „Nicht-Physikalismus“ (Supranaturalismus, Dualismus etc.), der meint, dass man physikalische Prozesse in irgendeiner Weise ausblenden könnte! Zur Auswahl steht durchaus auch ein „Nicht-Nur-Physikalismus“ (emergentistischer Physikalismus, Materialismus oder Naturalismus), der die Allgegenwart der basalen, physikalischen Prozesse berücksichtigt, aber trotzdem anerkennt, dass sich auf emergenter Ebene eigene Gesetzmäßigkeiten entwickelt haben, die einen realen, wenn auch physikalisch „unsichtbaren“ (weil im Einklang zu den bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten stehenden) Einfluss auf die niederen Integrationsebenen haben.
Wie ich im zweiten Teil dieser Replik dargelegt habe, folgt aus dem hier vorgestellten Modell, dass wir so reduktionistisch wie möglich, aber zugleich so komplex wie nötig forschen sollten. In den vergangenen Jahren habe ich in meinen Texten den ersten Aspekt „so reduktionistisch wie möglich“ weitaus stärker betont als den zweiten Aspekt „so komplex wie nötig“. Angesichts der vielen Probleme, die durch anti-naturalistische Weltanschauungen hervorgerufen werden, scheint mir diese Strategie auch heute noch sinnvoll zu sein. Dennoch sollten wir nicht den Fehler machen, die Probleme zu übersehen, die sich eben auch aus einem allzu reduktionistischen Denkansatz ergeben! Denn dieser eliminiert letztlich all die emergenten Eigenschaften, die für unser Leben von Bedeutung sind!
Worin besteht also die Lektion, die wir Naturalisten in Zukunft vielleicht doch etwas stärker beachten sollten? Ich möchte es (in Anlehnung an einen leider sehr missverständlichen Satz Werner Heisenbergs) so formulieren: „Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft führt zum Reduktionismus; aber auf dem Grund des Bechers wartet eine überwältigende Kreativität der Materie, welche immerfort neue, emergente Ordnungen hervorbringt, die wir mit dem groben Raster des Reduktionismus niemals vollständig werden erfassen können…“
Michael Schmidt-Salomons Artikelserie:
Der erste Teil der Replik „Wege aus dem Labyrinth (1)“
Der zweite Teil der Replik „Wege aus dem Labyrinth (2)"
Andreas Müllers Artikelserie über die Willensfreiheit:
Teil 1: Im Labyrinth der Willensfreiheit
Teil 2: Abschied von der Willensfreiheit
Teil 3: Das Marionettentheater